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Blick in den Plenarsaal und hauptsächlich die Flaggen für Deutschland, Berlin und Europa
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Rede der Präsidentin des Abgeordnetenhauses von Berlin, Cornelia Seibeld, anlässlich des 83. Jahrestages des Gedenkens an den Beginn der nationalsozialistischen Deportationen von Juden aus Berlin am Mahnmal "Gleis 17"

14.10.2024 12:00, S-Bahnhof Grunewald

Lassen Sie mich zu Beginn etwas persönliches sagen: ich bin in Grunewald – nicht weit von hier – zur Schule gegangen. Auf das Walter-Rathenau-Gymnasium. Unsere damalige Schulleiterin hat viel Wert darauf gelegt, sich auch mit der Biografie des Namensgebers unserer Schule auseinanderzusetzen – Walter Rathenau, der am 24. Juni 1922 in unmittelbarer Nähe ermordet wurde. Als Jude von Rechtsradikalen ermordet wurde.

Aufarbeitung und Kenntnisse des Nationalsozialismus war an meiner Schule immer ein großes Thema. Und in meiner Schulzeit gab es noch zahlreiche Zeitzeugen: „Mein“ Zeitzeuge war Isaac Behar – und seine Schilderung hat mich sehr nachhaltig beeindruckt. Und so höre ich heute noch seine Stimme, wenn ich hier stehe, wie er die Deportation seiner Eltern 1942 hier von Gleis 17 beschreibt. Isaac Behar hat uns Schülern damals die Verantwortung mit auf den Weg gegeben, die Erinnerung an das Menschheitsverbrechen der Shoa nicht sterben zu lassen. Und auch deswegen stehe ich – stehen wir – heute hier.

Wir sind hier an einem vermeintlich gewöhnlichen Ort. Es ist ein Bahnhof, es ist der ehemalige Güterbahnhof Grunewald. Gerade in Berlin gab es viele Bahnanlagen wie diese. Wir sind gleichzeitig an einem alles andere als gewöhnlichen Ort. Das gilt für die Jüdinnen und Juden, die nach Kriegsbeginn im sogenannten Dritten Reich in Berlin lebten, aber auch für die Deutsche Reichsbahn, deren Teilhabe an einem beispiellosen Verbrechen hier greifbar wird.

Was ließ einen Ort der Alltäglichkeit, der dem Transport von Gütern diente, zu einem Tatort der Menschenverachtung, einem Vorort der Menschenvernichtung, werden? Als am 18. Oktober 1941, vor 83 Jahren, der erste Osttransport mit mehr als 1000 jüdischen Kindern, Frauen und Männern, - Berliner Kindern, Frauen und Männern – hier losfuhr, da war dem eine lange und systematische Vorbereitung vorangegangen.

Schon bald nach der Machtübernahme setzten die organisierten Diskriminierungen ein. Bereits am 1. April 1933 sorgte die SA für einen Boykott jüdischer Geschäfte. Die Ausgrenzung von Jüdinnen und Juden zog sich in den folgenden Jahren durch alle Bereiche des privaten und staatlichen Lebens. Die vorgebliche Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, die Nürnberger Rassegesetze, die Verbote an deutschen Universitäten zu studieren, die Untersagung der Berufsausübung. Ab dem 9. November 1938, der Reichspogromnacht, regierte der nackte Terror. Aufgrund von Mord und brutaler Körperverletzung, von Brandstiftung und Schutzhaft sowie der oftmaligen faktischen Enteignung ging es jetzt um das blanke Überleben. Viele Berliner Jüdinnen und Juden verließen ihre Heimatstadt, auch wenn Ihnen vorher durch die auferlegte Auswanderungssteuer der Finanzämter ihr Vermögen genommen worden war.

Über Jahre als sogenannte „Volksfeinde“ und sogenannte „Schädlinge“ gebrandmarkt, entrechtet und abgesondert, folgte mit dem Kriegsbeginn die nächste Phase. Ab dem 1. September 1941 galt eine Pflicht zur Kennzeichnung mit dem gelben Stern. Es wurde untersagt, den Wohnort zu verlassen und die Auswanderung im Oktober 1941 verboten. All diese Maßnahmen wurden planvoll vorbereitet. Ein wesentlicher Teil der Machtübernahme der Nationalsozialisten war nicht einfach nur die Besetzung staatlicher Führungspositionen und die Gleichschaltung aller Institutionen. Ganz wesentlich war die Durchsetzung und Vermischung von Organisationen der NSDAP mit offiziellen Staatsorganen. Insbesondere die SS und der Sicherheitsdienst (SD) verschmolzen so auf Dauer mit Sicherheitspolizei und Kriminalpolizei.

Statt der aufgeteilten Polizeibehörden in den Ländern gab es eine Zentralisierung und Steuerung aus Berlin. Zu Beginn des Krieges wurden alle diese Organisationen als Einheit zusammengefasst. Es entstand das Reichssicherheitshauptamt. Denn jetzt sollte der Terror in ganz Europa organisiert werden. Und die wichtigste Aufgabe war von Anfang an der Massenmord an Jüdinnen und Juden in den neu eroberten Gebieten. Noch bevor der Überfall auf Polen erfolgte, waren bereits vier Einsatzgruppen vorbereitet, die mit den massenhaften Erschießungen nach der Besetzung Polens begannen.

Es war nicht eine kleine, abgeschottete Gruppe, die ihren Rassenwahn auslebte. Es war ein großer bürokratischer Apparat mit vielen Mitarbeitern, der hier systematisch agierte. Nach dem Krieg wurden ca. 7000 Personen erfasst, die im Reichssicherheitshauptamt, bzw. in seinen Vorgängerinstitutionen und Unterorganisationen tätig waren. Und es waren keineswegs nur völkische Ideologen. So zynisch es klingt, die neuen Strukturen boten für vergleichsweise junge, oftmals akademisch ausgebildete Karrieristen geradezu glänzende Aufstiegschancen. So wichtig es ist, den Opfern ihre Namen und Gesichter wiederzugeben, so aufschlussreich ist auch die Beschäftigung mit den Biographien der Täter.

Auf der Wannseekonferenz am 20. Januar 1942 wurde dann unter der Leitung des Chefs des Reichssicherheitshauptamtes, Reinhard Heydrich, gemeinsam u. a. mit verschiedenen Ministerien die Deportation der gesamten jüdischen Bevölkerung in Europa zur Vernichtung in den Osten organisiert und koordiniert. Der Holocaust war dabei schon im Gange. Und die Berliner Jüdinnen und Juden waren längst erfasst und Teil der Gesamtplanung.

Rund 66.000 Juden lebten 1941 noch in Berlin. Nach und nach erhielten sie ihre Deportationsbefehle und mussten sich in Sammellagern einfinden. Von dort wurden sie dann in Marschkolonnen an die Verladerampen der Bahnhöfe durch Sicherheitskräfte eskortiert. Anfangs endeten die Zugfahrten im neuen Ghetto Litzmannstadt, wie die polnische Stadt Lodz nach ihrer Umbenennung hieß. Umsiedlung in die Ostgebiete hieß das offiziell. Doch schon der 6. Ost-Transport mit 1006 Deportierten fuhr in die besetzte litauische Hauptstadt Kaunas. Dort wartete auf alle Menschen des Transports in einer alten Befestigungsanlage ein Exekutionskommando, das ausnahmslos alle Deportierten umbrachte. Zu einem späteren Zeitpunkt im Jahr 1942 setzten dann die Transporte vom Güterbahnhof Moabit ein.

In allzu nüchternen Zahlen ausgedrückt:

In insgesamt 61 Osttransporten wurden mehr als 35.000 Berliner Juden deportiert und ermordet. Seit Ende 1942 fuhren die Züge direkt durch bis zu ihrem Ziel in Auschwitz. Außerdem gingen 123 sogenannte „Alterstranporte“ mit über 15.000 Berliner Juden – meist über 65 Jahre alt – nach Theresienstadt. Manche Züge zu diesem Ziel wurden auch am Anhalter Bahnhof eingesetzt. Aber alle Transporte sind hier als Teil der Gedenkstätte wiedergegeben. Nur wenigen Jüdinnen und Juden gelang es, zu fliehen oder unterzutauchen. Im Mai 1945 hatten noch rund 7000 jüdische Menschen in Berlin überlebt. Das alles geschah in Berlin nicht als Teil einer unsichtbaren Geheimoperation. Die Erfassung der jüdischen Bürger, die Erhebung der Abgaben, die sie an die Finanzämter unter Deklarierung ihres vollständigen Eigentums zahlen mussten, die organisierte Vertreibung aus ihren Wohnungen, Ihr Einsatz als Zwangsarbeiter in den Rüstungsbetrieben, all das war nur mit der Unterstützung vieler anderer Menschen auch jenseits der unmittelbar tätigen Nazi-Behörden möglich.

Es gab zehntausende Mitarbeiter der Reichsbahn, die neben den Vorstandsmitgliedern an der Spitze daran beteiligt waren, Millionen von Menschen in ihre Auslöschung zu transportieren. Das konnte nicht unbekannt bleiben. Genauso wie die Verbrechen direkt hinter der Ostfront, manchmal mit unmittelbarer Beteiligung von Wehrmachtsoldaten, sehr wohl bekannt waren.

Das Verleugnen der Mitwisserschaft, das Verschweigen aus Scham oder Verdrängung, das unbehelligte Weiterleben vieler Täter, sie dauerten noch lange Jahre nach Kriegsende in beiden Teilen Deutschlands an.

Wie sehr die gnadenlose Ideologie der Ausrottung aller Jüdinnen und Juden niemanden verschonte, lässt sich am konkreten Beispiel des Schicksals der Familie von Käte und Julius Schoeps zeigen. Julius Schoeps war ein deutscher Patriot. Er war Stabsarzt der Landwehr und Königlich Preußischer Gardeoffizier. Im Ersten Weltkrieg leitete er mehrere Feldlazarette. Für seine intensive Behandlung und Pflege der Verwundeten wurde er mehrfach ausgezeichnet und 1920 zum Oberstabsarzt befördert. Selbst nachdem ihm die Nationalsozialisten 1938 den Arzttitel entzogen hatten, erwog er noch, sich als 75jähriger nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges freiwillig wieder zum Militäreinsatz zu melden.

Gewiss eine krasse Fehleinschätzung der politischen wie der persönlichen Lage, jedoch Ausdruck seiner Überzeugungen. Sein Sohn Hans-Joachim Schoeps gründete sogar im Februar 1933 den Verein „Der deutsche Vortrupp. Gefolgschaft deutscher Juden“. Damit wollte er national gesinnte Juden in den Nationalsozialismus integrieren. Diese Verblendung hielt aufgrund der Ablehnung, als Jude als Lehrer arbeiten zu dürfen und des Drucks der Gestapo nicht an. 1938 konnte er sich in das Exil nach Schweden absetzen. Seine Eltern Käte und Julius Schoeps hingegen wurden nach Theresienstadt deportiert, wo Julius aufgrund einer nicht behandelten Nierenerkrankung starb. Seine Frau Käte wurde im Mai 1944 von Theresienstadt nach Auschwitz verbracht und dort ermordet.

Für den Rassenwahn zählte nur die Herkunft und die Religionszugehörigkeit. Das reichte, um in die Kategorie „unwerten Lebens“ eingeordnet zu werden. Berlin hat über das Stadtgebiet verteilt viele Gedenkorte an die nationalsozialistischen Verbrechen. Nicht wenige davon verdanken ihre Wiederentdeckung und Würdigung der Initiative von geschichtsbewussten Bürgerinnen und Bürgern. An diesem Ort hat eine Frauengruppe der evangelischen Gemeinde Grunewald bereits am 18. Oktober 1987 ein Mahnmal mit einer Eisenbahnschwelle und einer Messingplatte in Erinnerung an den ersten Osttransport 46 Jahre zuvor errichtet.

2005 wurde es erneuert. Der damalige Bezirk Wilmersdorf zog 1991 nach und enthüllte ein von dem polnischen Künstler Karol Broniatowski geschaffenes Mahnmal. Mit der deutschen Wiedervereinigung  kam es auch zur Zusammenführung der beiden getrennten Bahnbetriebe der beiden deutschen Staaten. Die Deutsche Bahn AG hat ab 1994 die Geschichte ihrer Vorläuferorganisationen erforschen lassen. Dazu gehört ganz wesentlich die Durchführung der Deportationstransporte durch die Deutsche Reichsbahn. Der Vorstand der Deutschen Bahn AG entschied sich für die Errichtung eines zentralen Mahnmals, welches 1998 eingeweiht wurde.

Für die Bahntransporte der Jüdinnen und Juden in die Todeslager ist Gleis 17 ein zentrales Mahnmal, für die Erinnerung und das Gedenken an die Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes ist es einer von vielen Orten in Berlin. Das ist auch gut so. Denn dadurch ist das Gedenken an die Opfer in der ganzen Stadt und bei vielen Berlinerinnen und Berlinern quasi vor der Haustür präsent. Und viele Bürgerinnen und Bürger haben in Eigeninitiative erforscht, welche jüdischen Menschen damals in ihren heutigen Wohnungen lebten, wie ihr Schicksal sich gestaltet hat. Und mit der Verlegung von Stolpersteinen ist das auch für alle anderen Fußgänger nachvollziehbar. Wie wenig Vergangenheit vergeht und wie präsent schon wieder Antisemitismus ist, zeigt leider der Brandanschlag im letzten Jahr auf die umgebaute ehemalige Telefonzelle mit den Büchern zur Judenverfolgung und zum Holocaust.

Ich bin denjenigen, die mit großem Engagement dafür gesorgt haben, dass die „BücherboXX Gleis 17“ wieder ein Teil des Ensembles der Gedenkstätte ist, für ihren Einsatz sehr dankbar. Wir können aus der Geschichte lernen. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben es vor 75 Jahren im Artikel 1, Absatz 1 so formuliert: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“

Wir müssen deshalb dafür Sorge tragen, dass unser Staat nicht in die Hände von Extremisten fällt. Mit der Demokratie haben wir unser Schicksal selber in der Hand. Nur mit unserem Einsatz für einen gewaltfreien politischen Wettbewerb werden wir die unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte als Grundlage unserer Gemeinschaft bewahren können.

Dafür wünsche ich uns allen in diesen bewegten Zeiten die notwendige Entschiedenheit, Kraft und Ausdauer. Vielen Dank.