
Rede der Präsidentin des Abgeordnetenhauses von Berlin, Cornelia Seibeld, zum 80. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges in Europa
08.05.2025 11:00, Rotes Rathaus, Festsaal
Als am 8. Mai in Deutschland die Waffen endlich schwiegen, da waren die Zeitgenossen überwältigt von der Zäsur, die das für Ihr Leben bedeutete. Je nach der persönlichen Situation wurde das Kriegsende sehr unterschiedlich erlebt:
- zum Beispiel auf einem Flüchtlingstreck
- oder in einem fast unberührt gebliebenen Dorf im Sauerland
- und in den weitgehend zerstörten Städten von Kiel bis Köln, von Dortmund bis Dresden gab es einen himmelweiten Unterschied
- zwischen einem NSDAP-Funktionär, der schnell noch die Spuren seiner Verbrechen beseitigte und einem befreiten Zwangsarbeiter,
- zwischen einem in die Gefangenschaft gehenden Wehrmachtssoldaten und dem aus den Lagern der Nazis Befreiten.
Was sie alle jedoch verband, war die Erleichterung, den Krieg überlebt zu haben. Und den völligen Zusammenbruch des Deutschen Reiches mit seinen Institutionen. Die Alliierten übernahmen das Kommando, trugen als vier Mächte die volle Verantwortung für Deutschland.
Objektiv waren die Deutschen von der Diktatur und einem Unrechtsregime befreit. Subjektiv wurde die Kapitulation von vielen als Fall ins Bodenlose empfunden. Von den Gegnern des NS-Regimes und seinen unsagbar vielen Opfern fiel die beständige Furcht ab, verfolgt und ermordet zu werden.
Die biografische Erfahrung und die historische Zäsur verschmolzen in der Vorstellung der Zeitgenossen zur „Stunde Null“. Sehr intensiv wurde ein historischer Moment empfunden, in welchem nichts mehr gewiss und alles möglich schien. Es griff die Vorstellung einer Tabula rasa um sich. Als der Krieg zu Ende gegangen war, wusste niemand genau, wie es weitergehen würde.
Auch ausländische Beobachter verbanden mit der „Stunde Null“ den Eindruck einer umfassenden Zerstörung. Sie hatte jede Hoffnung auf eine bessere Zukunft in Deutschland unter sich begraben. Besonders in Berlin sahen sich alle Menschen in einen gigantischen Steinhaufen versetzt, dessen schiere Größe nicht zu bewältigen schien. Nicht nur die vielen Trümmerfrauen waren bedeckt von einer Schicht grauen Staubes. Es hatte sich auch ein grauer, undurchdringlicher Schleier vor den Gedanken an eine bessere Zukunft geschoben.
Die Erfahrung der „Stunde Null“ bedeutete scheinbar den vollständigen Verlust von Zukunft. Gerade den Jüngeren erschien die unmittelbare Vergangenheit wie ein Spuk, der nur Leere hinterlassen hatte. Ein Leben ohne Hoffnung auf Verbesserung, ein in den Tag hineinleben. Wichtig waren nur die essentiellen Grundbedürfnisse: Sattwerden, ein Dach über dem Kopf, Kleidung.
Diese Zwischenzeit war geprägt durch die Erfahrung der selbst erlittenen Verluste, nicht der Verluste, die man anderen Menschen zugefügt hatte. Ja, die Deutschen der „Stunde Null“ empfanden sich oftmals als Opfer. Die Opfer der deutschen Untaten hingegen befanden sich häufig außerhalb Ihrer Wahrnehmungs- und Vorstellungswelt.
Der Eindruck einer umfassenden Zäsur war aber in vielen Lebensbereichen eine Scheinwahrheit. So waren auf wirtschaftlichem Gebiet trotz aller Kriegsschäden die Fabriken und Maschinen oftmals weitgehend erhalten geblieben. Die Eigentumsverhältnisse in den westlichen Besatzungszonen lebten fort. Dies kam einem prosperierenden Neuanfang nach der Währungsunion entgegen. Die unterschiedlichen Wellen der Enteignung und Kollektivierung in der sowjetischen Zone verzögerten hingegen Ausmaß und Tempo des Wiederaufbaus.
Auch in sozialer und kultureller Hinsicht erwies sich die vermeintliche „Stunde Null“ eher als große Illusion. Die Prägungen aus der Zeit der Weimarer Republik sowie des Nationalsozialismus lebten in den ostdeutschen und westdeutschen Nachkriegsgesellschaften fort. Vor dem Hintergrund des vollständigen Zusammenbruchs war in den folgenden Jahrzehnten in der Bundesrepublik das „Wirtschaftswunder“ eine strahlende Erfolgsgeschichte. Dabei standen die Konsolidierung der Bundesrepublik, ihre „Westbindung“, im Vordergrund.
In den beiden ersten Jahrzehnten der DDR sah sich die SED zur Führung der gesamten Nation berufen. War das nicht der Sinn des Sieges der Sowjetunion über Hitlerdeutschland? Freie Wahlen und eine demokratische Mehrheit brauchte es aus dieser Sicht nicht.
Es gab in der gesellschaftlichen Zugehörigkeit, im Erziehungsstil, im Werteverständnis bedeutende Kontinuitäten und Gemeinsamkeiten. Das galt insbesondere für die mangelnde Bereitschaft zur Verarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit. Erst mit der Durchsetzung liberaler Werte in der Bundesrepublik der 70er und 80er Jahre wandelte sich das Selbstverständnis.
Vor fast genau einem Monat jährte sich am 9. April der Tag der Hinrichtung von Dietrich Bonhoeffer im Konzentrationslager Flossenbürg zum 80. Mal. Er musste für seinen Widerstand gegen den Nationalsozialismus den maximalen Preis zahlen. Seine Theologie hat den Wandel in der evangelischen Kirche wie auch darüber hinaus wesentlich beeinflusst.
Sein Bekenntnis zur Demokratie, seine Widerlegung des jahrhundertealten Antijudaismus waren wegweisend. Damit konnte die Verstrickung der „Deutschen Christen“ in den Nationalsozialismus und den deutschen Antisemitismus überwunden werden. „Von guten Mächten wunderbar geborgen“ gab in der Bundesrepublik nicht nur eine christliche Heilsgewissheit, sondern auch das Selbstverständnis der geglückten Neuorientierung wieder.
Am 2. April dieses Jahres wäre Hans Rosenthal 100 Jahre alt geworden. Wäre es nach den systematischen Mordplänen gegangen, er wäre – wie so viele andere Berliner Juden –- deportiert und in einem Wald bei Riga ermordet worden. So wie sein jüngerer Bruder Gert. Hans Rosenthal entging diesem Schicksal nur, weil er die Gefahr erkannte und mithilfe von mehreren Frauen in einem Versteck in einer Kleingartenkolonie überlebte.
In dieser strengen Isolation blieb ihm als Kontakt zur Außenwelt nur das Radio. Nach der Befreiung durch die sowjetischen Eroberer Berlins hat er das Medium Radio zu seiner Arbeitswelt gemacht. Dank seiner ungeheuren Kreativität im Erfinden neuer Rate- und Unterhaltungssendungen war er deutschlandweit sehr erfolgreich. Dabei engagierte er sich sowohl in der jüdischen Gemeinde Berlins wie auch als gewähltes Mitglied im Zentralrat der Juden.
Mit seiner Fernsehshow „Dalli Dalli“ gewann er ab 1971 ein außergewöhnliches Maß an Beliebtheit beim Publikum. Und doch ließ ihn die Vergangenheit nie los. Seine Frau Traudl konnte davon erzählen, wie ihn des Nachts immer wieder die Frage quälte, ob sein Bruder Gert nicht doch seinen Häschern hatte entkommen können.
Es gab die öffentliche Begeisterung für Hans Rosenthal als gut gelaunten Botschafter der Fernsehunterhaltung. Er war sich allerdings bewusst, dass manche seiner Anhänger ihn wenige Jahre vorher an die Nazis verraten hätten. Und es gab die Missachtung des 40. Jahrestages der Reichspogromnacht. Statt am öffentlichen Gedenken in der Synagoge teilnehmen zu können, wurde er verpflichtet, seine Live-Show im Fernsehen zu präsentieren. Hans Rosenthal wollte die Normalität jüdischen Lebens zeigen. Der Verdrängung der Verfolgung und Ermordung deutscher Jüdinnen und Juden wollte er keinen Vorschub leisten.
Aber es gab neben den Verfolgten des Nationalsozialismus auch die anderen – die Profiteure. Ein aus heutiger Sicht besonders krasses Beispiel eines Profiteurs des Nationalsozialismus war Josef Neckermann. Er nutzte vielfach die Chancen , die ihm das Programm der sogenannten „Arisierung“ bot. Das Programm diente der absichtsvollen Verdrängung jüdischer Unternehmer aus der deutschen Wirtschaft. Neckermann konnte so zwei jüdische Geschäfte in Würzburg zu einem besonders günstigen Preis übernehmen.
Als noch ertragreicher erwies sich der Erwerb der Wäschemanufaktur mit Versandhaus von Karl Joel. Erst drückte Neckermann den Kaufpreis, um dann nach der Flucht von Karl Joel in die Schweiz die Auszahlung zu verweigern. Mit den Unternehmen Joels übernahm Neckermann auch den Mietvertrag in dessen Villa in der Tannenbergallee im Berliner Westend und zog dort ein.
Neckermann hatte eine persönliche Beziehung zu Otto Ohlendorf, verantwortlich für Massenerschießungen polnischer Juden und Führungskraft in SS und SD. Er half Neckermann Aufträge für die Lieferung der Bekleidung von Zwangsarbeitern und von Uniformen für Soldaten zu bekommen.
Nach dem Krieg war Neckermann lange mit seinem Unternehmen erfolgreich, fügte dem Versandhaus noch Kaufhäuser und ein Reiseunternehmen hinzu. Vielleicht erinnert sich der eine oder andere noch an die Werbung: “Neckermann macht´s möglich“. 1977 erfolgte aufgrund einer finanziellen Schieflage der Verkauf an die Karstadt AG. Sein öffentliches Renommee blieb unbeschadet. Als Dressurreiter wurde er für Deutschland Olympiasieger, Sportfunktionär im Nationalen Olympischen Komitee und schließlich langjähriger Vorsitzender der Sporthilfe. Zu seiner Karriere in der NS-Zeit merkte er in seiner Autobiographie nur an, dass er zur politischen Opposition oder gar zum Märtyrer nicht taugte.
Geschichte ist immer auch Familiengeschichte. Und da gilt im Selbstbild vieler deutscher Familien: „Opa war kein Nazi“. Die Ergebnisse der Umfragen der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft geben folgendes Bild wieder: Nur 10,5 Prozent der Befragten halten es für wahrscheinlich, dass ihre Vorfahren in die Gruppe der Täter zu zählen seien. Hingegen glauben 65,3 Prozent daran, dass ihre Vorfahren Juden und anderen Verfolgten geholfen hätten.
Der verbrecherische Charakter und die Menschenvernichtung durch das NS-Regime sind genauso unbestreitbar wie die deutsche Schuld am Ausbruch des II. Weltkrieges. Die totale deutsche Niederlage war aufgrund der Überfälle auf unsere Nachbarn und der deutschen Verbrechen zwingend. Nur mit der Befreiung Europas von deutscher Herrschaft konnte auch die Befreiung der Deutschen einhergehen.
Mit den Worten Richard von Weizsäckers: “Es gab keine ‚Stunde Null‘, aber wir hatten die Chance zu einem Neubeginn. Wir haben sie genutzt so gut wir konnten. An die Stelle der Unfreiheit haben wir die demokratische Freiheit gesetzt.“ In seiner Rede vom 8. Mai 1985 hat Bundespräsident von Weizsäcker darauf hingewiesen, dass wir Deutschen keinen Grund hätten, uns an den Siegesfeiern zu beteiligen. Seine Rede war deshalb der Erinnerung an deutsche Untaten und den daraus folgenden Einsichten gewidmet.
Heute sind wir noch einmal 40 Jahre weiter. Wir wissen, dass wir den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 trennen dürfen. Wir durften den 9. November 1989 erleben. Und wir konnten seither von unseren Nachbarn in Mittel- und Osteuropa lernen, dass die Ereignisse der Jahre 1989 und 1990 untrennbar mit dem 23. August 1939 verbunden sind.
Erst der Abschluss des Hitler-Stalin Paktes mit seinem geheimen Zusatzprotokoll öffnete den Weg für den deutschen Überfall auf Polen und die Besetzung Ostpolens durch die Sowjetunion. Kaum hatte Polen kapituliert, schon wurde Ende September 1939 der Deutsch-Sowjetische Freundschafts- und Grenzvertrag geschlossen. Ganz offiziell wurden Estland, Lettland, Litauen, Finnland und Rumänien der sowjetischen Einflusssphäre zugeschlagen. 1940 besetzte die Sowjetunion die drei baltischen Länder militärisch. Finnland widersetzte sich der Forderung nach Stationierung sowjetischer Truppen. Es wurde deshalb im Winter 1939/40 von der Sowjetunion überfallen und zu weitreichenden territorialen Abtretungen gezwungen.
Die baltischen Staaten, Ostpolen, und das finnische Karelien hat Stalin als Teile der Sowjetunion auf Dauer einbehalten. Zusätzlich oktroyierte die Sowjetunion allen Mitgliedsländern des späteren Warschauer Paktes ihr sozialistisches politisches System auf, um ihre Herrschaft über diese Staaten abzusichern. Aus Sicht der betroffenen Völker gab es eine doppelte Gewalterfahrung. Sie gedenken am 8. Mai nicht nur der Befreiung von deutscher Besatzung. Sie gedenken auch der Unfreiheit im sowjetischen System.
Wir sollten also unser nationales Gedenken mehr für eine transnationale Geschichtsschreibung öffnen. So wie die deutsche Einheit nur als Teil der europäischen Einheit erreichbar war, so wird das Gedenken an den 8. Mai 1945 nur verbindend sein, wenn es ein gesamteuropäisches Gedenken ist. Das wäre dann ein Beitrag für die notwendige Stärkung der europäischen Zusammengehörigkeit.
In den 80 Jahren seit dem Kriegsende ist es in Westeuropa und in Mittel- und Osteuropa zum Aufbau einer weltweit einzigartigen Gemeinschaft gekommen, der Europäischen Union. Zwischen ihren Mitgliedern ist Krieg unvorstellbar. Jetzt steht der nächste Schritt an: Durch die Zusammenarbeit untereinander sich auch gegen äußere Bedrohungen, insbesondere durch Russland, zu wappnen. Der deutsche Beitrag zu diesem europäischen Projekt ist unverzichtbar.
Oder wie es der polnische Außenminister Radoslaw Sikorski einmal sinngemäß formuliert hat: Unsere europäischen Freunde und Nachbarn fürchten deutsche Führung weniger als deutsche Untätigkeit. 1990 gab es mancherlei Skepsis unserer Nachbarn gegenüber dem wiedervereinigten Deutschland. Das hat sich sehr weitgehend verändert.
Die litauische Verteidigungsministerin Dovile Sakaliene sieht einen klaren historischen Rollenwechsel seit dem Kriegsende: “Seitdem hat sich Deutschland enorm verändert – nicht zuletzt, weil es den Krieg verloren hat. Es ist von einer Gefahr zum Beschützer geworden.“ Das ist eine der Konsequenzen, die wir aus dem 8. Mai 1945 und seiner Vorgeschichte richtigerweise gezogen haben.