1. Der Senat wird aufgefordert, mit Nachdruck bei der Bundesregierung darauf zu dringen, daß
a) der Bund schnellstmöglich von der Möglichkeit des Art. 125a II 2 GG Gebrauch macht, indem er die Länder durch Gesetz ermächtigt, das Ladenschlußgesetz (LadSchlG) durch jeweiliges Landesrecht zu ersetzen;
b) die Frage der künftigen Regelungen der Ladenöffnungszeiten nicht Gegenstand der „Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung“ (Föderalismuskommission) wird.
2. Der Senat wird aufgefordert, zur Ersetzung des LadSchlG durch landesrechtliche Regelungen im Sinne des Art. 125a II 2 GG dem Abgeordnetenhaus einen Gesetzentwurf vorzulegen. In diesem sind die vom Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil v. 09.06.2004 (AZ: 1 BvR 636/02) gemachten Vorgaben zum Schutz der Sonn- und Feiertagsruhe, aber auch zu den Ausnahmen von dieser angemessen zu berücksichtigen. Ansonsten ist auf Regelungen zu Ladenöffnungszeiten zu verzichten.
Begründung:
zu 1.a)
Länderzuständigkeit, Ermächtigung durch den
Bund:
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Grundsatzurteil zum Ladenschlußgesetz klargestellt, daß der Bund die Regelungen der Ladenöffnungszeiten nur noch marginal ändern darf. Weitreichende Änderungen bzw. eine Neukonzeption dürfen nur noch von den Ländern vorgenommen werden. Diese sind hierzu jedoch durch ein Bundesgesetz formell zu ermächtigen.
Das Gericht hat insofern angemahnt, die Bestimmungen des Art. 125a II 2 GG bei einer Reform des Ladenschlußgesetzes mit Leben zu erfüllen. Vor dem Hintergrund des offensichtlichen und auch von der Bundesregierung immer wieder konstatierten Reformbedarfs in diesem Feld ist dies eine deutliche Aufforderung an den Bund, nunmehr unverzüglich von sich aus gesetzgeberisch tätig zu werden. Die Länder müssen die Möglichkeit erhalten, in ihrem Sinne und durchaus auch in unterschiedlicher Weise die Bestimmungen des Ladenschlußgesetzes ihren regionalen Bedürfnissen anzupassen. Das Gericht unterstreicht diese Öffnung für möglicherweise von Land zu Land abweichende Regelungen, indem es nochmals feststellt, daß „eine bundesrechtliche Regelung des Ladenschlusses für die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder für die Wahrung der Rechts- und Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse nicht erforderlich“ (RN 102) ist.
zu 1.b.
Föderalismuskommission
Aus diesem Grund ist es weder geboten noch zielführend, die Frage des Ladenschlusses und der Kompetenzübertragung etwa in der Föderalismuskommission zum Verhandlungsgegenstand zu machen. Lt. Einsetzungsbeschluß der Föderalismuskommission (BT-Drucksache 15/1685, BR-Drucksache 750/03) erarbeitet sie „Vorschläge zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung in der Bundesrepublik Deutschland mit dem Ziel, die Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit von Bund und Ländern zu verbessern, die politischen Verantwortlichkeiten deutlicher zuzuordnen sowie die Zweckmäßigkeit und Effizienz der Aufgabenerfüllung zu steigern.“ Genau dieses „Erarbeiten von Vorschlägen“ ist im Hinblick auf die Regelungen der Ladenöffnungszeiten nach dem Urteil des Verfassungsgerichts nicht mehr erforderlich. Das Gericht hat die politischen Verantwortlichkeiten für den Ladenschluß bereits klar zugeordnet und auch die Entscheidungsfähigkeit testiert.
Eine Erörterung des Themas im Rahmen der Föderalismuskommission würde dagegen einen vom Verfassungsgericht gerade deutlich verneinten Abstimmungszwang zwischen den Ländern bzw. zwischen Bund und Ländern suggerieren und die Frage des Ladenschlusses in verfassungswidriger Weise einem Einigungszwang aller Beteiligten unterwerfen.
Art. 125a II 2 GG sprich davon, daß ein Bundesgesetz durch Landesrecht ersetzt werden kann. Durch das Wort „kann“ wird deutlich, daß kein Landesgesetzgeber gezwungen ist, eine eigene Ladenschlußregelung vorzunehmen. Es ist den Ländern vielmehr freigestellt, ob sie weiterhin unter der Geltung, des Bundesgesetz verbleiben möchten. Auch dies ist ein deutlicher Hinweis darauf, daß ein unter den Ländern koordiniertes Vorgehen nicht erforderlich ist.
Unabhängig hiervon würde die Befassung der Föderalismuskommission verhindern, daß weder der Bundes- noch in der Folge die Landesgesetzgeber kurzfristig die Möglichkeiten des Urteils ausschöpfen und eine Reform der Ladenschlußregelungen umsetzen können.
zu 2)
Aufhebung des Ladenschlusses unter Achtung
der Sonn- und Feiertagsruhe durch Berliner Landesgesetz
Die Vorgaben des Verfassungsgerichts:
Das Verfassungsgericht hat in seinem Urteilsteil zur werktäglichen Öffnung von Läden bei Stimmengleichheit der Richter verneint, daß das Ladenschlußgesetz verfassungswidrig ist. Es hat aber im Rahmen der Erörterung der verfassungsrechtlichen Bestimmungen nicht davon gefordert, daß eine werktägliche Öffnung notwendigerweise begrenzt sein muß, sondern dem Gesetzgeber einen erheblichen Gestaltungsspielraum zugesprochen.
Einer Freigabe der werktäglichen Öffnungszeiten steht daher verfassungsrechtlich nichts im Wege, wenn der Gesetzgeber gleichzeitig sicherstellt, daß die Sonn- und Feiertagsruhe geschützt wird. Bei der Wahrung eines hinreichenden Niveaus des Sonn- und Feiertagsschutzes darf er allerdings die „erheblichen Änderungen im Freizeitverhalten der Bevölkerung berücksichtigen. Die Befriedigung der Freizeitbedürfnisse an diesen Tagen ist in gestiegenem Maße auf die Bereitstellung von entgeltlichen Leistungen als Arbeit für den Sonn- und Feiertag angewiesen. So verursachen insbesondere die gewachsene Mobilität der Bevölkerung, die Nutzung von vielfältigen Angeboten der so genannten Freizeitindustrie und der Ausbau von Urlaubs- und Erholungsgebieten einen vermehrten Bedarf an Einkaufsmöglichkeiten“ (RN 189).
Ein Berliner Landesgesetz zur Wahrung des Sonn- und Feiertagsschutzes, das sich einer Regelung werktäglicher Ladenöffnungszeiten enthält, muß daher einen angemessenen Katalog von Ausnahmen für den Sonn- und Feiertag enthalten. Dies ist schon deshalb nötig, um das künftige Schließen solcher Verkaufsstellen zu verhindern, die nach der bisherigen Regelung an Sonn- und Feiertagen öffnen dürfen (z.B. Tankstellen, Kioske sowie die Läden in Bahnhöfen und Flughäfen). Zu einer Verschlechterung des Arbeitsangebots für den Sonn- und Feiertag darf das Gesetz – auch im Lichte der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts – keinesfalls führen.
Liberalisierung des Ladenschlusses:
Dem Land Berlin ist durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts die ersehnte Möglichkeit eröffnet worden, die Ladenöffnungszeiten dem Charakter einer – vielbeschworenen – weltoffenen Metropole, eines Tourismusmagnets, einer Stadt voller moderner Großstadtmenschen mit ihren dem 21. Jahrhundert entsprechenden Lebens- und Arbeitsrhythmen anzupassen.
Die Arbeits- und Konsumgesellschaft des 21. Jahrhunderts stellt völlig neue Herausforderungen an Unternehmen und Verbraucher. Flexiblere Arbeitszeiten, wachsende Mobilität und höchst unterschiedliche Beschäftigungsstrukturen haben die Arbeits-, Lebens- und Konsumgewohnheiten der Menschen nachhaltig verändert. Diesen Entwicklungen trägt das Ladenschlußgesetz vom 28. November 1956 auch nach zwischenzeitlichen Änderungen schon lange nicht mehr Rechnung. Vielmehr bedeuten die Beschränkungen und Regulierungen der geltenden Rechtslage nicht nur einen überflüssigen bürokratischen Aufwand, sie widersprechen insbesondere auch der Gestaltungsfreiheit des Handels sowie den Bedürfnissen der Kunden.
Die vollständige Freigabe der Ladenöffnungszeiten an Werktagen entspricht deshalb einer zeitgemäßen Anpassung der Rechtslage an die veränderte Lebens- und Arbeitswelt. Sie bedeutet darüber hinaus auch eine konkrete Rückführung staatlicher Einflußnahme auf den privaten Sektor, einen Abbau bürokratischer Regulierung und eine Öffnung für neue und innovative Angebotsmodelle. Die Erfahrungen der vergangenen Jahren mit verlängerten Ladenöffnungszeiten anläßlich von Sonderverkäufen, in Tankstellen, Bahnhöfen, Flughäfen zeigen ebenso deutlich wie die stark wachsende Inanspruchnahme von E-Commerce im Internet, daß die Kunden in Deutschland frei über ihre Zeit verfügen möchten, ungehindert durch bürokratische Regulierung der Einkaufszeiten.
Neben der grundsätzlichen Problematik, mit welchem Recht eigentlich der Staat dem Einzelnen – sei er selbstständig oder angestellt – die Möglichkeit, Waren außerhalb bestimmter Zeiten zu verkaufen, verwehrt, stellt sich auch die Frage nach den ökonomischen Konsequenzen für die Entwicklung von Handel und Dienstleistungen. Hier ist nicht einzusehen, warum die Initiative von Tausenden von Einzelhändlern und die Wünsche von Millionen Kunden, die bereits heute von den Verbesserungen der vergangenen Liberalisierungsschritte ausgiebig Gebrauch machen, durch bürokratische Regulierungen beeinträchtigt werden sollten. Vielmehr ist zu erwarten, daß eine weitere Liberalisierung der Ladenöffnungszeiten dem Einzelhandel neue Impulse verleiht und somit zur wirtschaftlichen Erholung in Deutschland beiträgt. Dies gilt dabei in besonderem Maße für kleine und mittelgroße Einzelhändler, die nunmehr ihre Stärken (Zentrumsnähe, individueller Beratungsservice) verstärkt einbringen können, um mit großen Märkten „auf der grünen Wiese“ zu konkurrieren, vor allem in der Phase der Existenzgründung. Ihnen die Flexibilität zu geben, hier kreativ und innovativ zu agieren, ist ein wichtiges Anliegen der vorliegenden Gesetzesvorlage.
Für die Beschäftigten gestalten sich die Arbeitszeitregelungen sowie die Arbeitnehmerschutzrechte weiterhin durch die Vorschriften des Arbeitszeitgesetzes (ArbZG) und der (Mantel-)Tarifverträge. So wird die Freigabe der Ladenöffnungszeiten keinerlei Auswirkungen auf die höchstzulässige werktägliche Arbeitszeit, die Mindestpausen und die Mindestruhezeiten für das Verkaufspersonal haben, die durch das Arbeitszeitgesetz gedeckt sind. Sie wird allerdings zu einer weiteren dringend notwendigen Flexibilisierung der Arbeitszeiten führen. Doch hat sich genau dieser Wandel für weite Teile der arbeitenden Bevölkerung schon längst vollzogen: Neben den traditionellen Notfall- und Betreuungseinrichtungen wie Feuerwehr oder Krankenversorgung gelten in der heutigen Arbeitswelt, deren Wirtschaftskraft in hohem Maße vom Dienstleistungssektor bestimmt wird, für eine Vielzahl der Beschäftigungsverhältnisse äußerst flexible Arbeitszeiten: In der Gastronomie, dem Hotelgewerbe, Kultur- und Erholungseinrichtungen, Sport- und Wellnessanlagen, Taxi-, Reise- und Transportfirmen, Medienunternehmen, Callcenter usw. Dieser Trend wird sich noch weiter fortsetzen.
In der Konsequenz wird deshalb die Freigabe der Ladenöffnungszeiten an Werktagen allen Kunden zugute kommen. Allein Lebenden ermöglichen sie eine leichtere Vereinbarkeit von Beruf und Konsumverhalten, Paaren eröffnen sie neue Möglichkeiten gemeinsamen Einkaufens auch außerhalb des „überfüllten Familieneinkaufssamstags“. Es besteht kein Grund, den Berliner Kunden diese Optionen vorzuenthalten angesichts eines internationalen Umfeldes, in dem die Bundesrepublik Deutschland mit ihren restriktiven Ladenöffnungszeiten verhältnismäßig allein steht. Im Gegenteil: Berlin sollte hier auch bewußt als Hauptstadt ein Signal setzen!
Der Senat muß deshalb die Gestaltungsverantwortung in die Hände der Betroffenen legen: Händler, Dienstleister, Arbeitnehmer sowie Gewerkschaften und allen voran Verbraucher. Die Betroffenen sollen – im Einvernehmen – mittels kreativer Lösungsansätze selbst entscheiden können, ob und wie lange Geschäfte an Werktagen geöffnet bzw. Dienstleistungen angeboten werden. Damit erhalten gerade Einzelhändler die Chance, ihre Öffnungszeiten je nach Branche und lokalen Bedürfnissen der Kundschaft auszurichten. Dies bedeutet ausdrücklich nicht, daß jeder Händler sein Geschäft von Montag bis Samstag rund um die Uhr geöffnet halten muß!
Nicht vergessen werden darf hierbei, daß der anhaltende wirtschaftliche Niedergang der Stadt ein liberales wirtschaftspolitisches Aufbruchssignal dringend braucht. Seit 1992 waren jedes Jahr reale Umsatzrückgange im Einzelhandel zu verbuchen gewesen. In diesem Zeitraum gingen dort überdies 10.000 Arbeitsplätze verloren.
Berlin sollte die Chance nutzen, mit einer den modernen Lebensabläufen in einer Metropole entsprechenden und der Hauptstadt als Tourismusmagnet angemessenen Regelung den Bürgern wieder Freiheit zurückzugeben. Das wäre endlich ein Aufbruchssignal, das dem oft beschworenen Mentalitätswechsel entspräche.
Berlin, den 15.06.2004
Dr. Lindner v. Lüdeke Thiel
und die übrigen Mitglieder der Fraktion der FDP
Ausschuss-Kennung
: WiBetrTechgcxzqsq