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Blick in den Plenarsaal und hauptsächlich die Flaggen für Deutschland, Berlin und Europa

Ansprache bei der Kranzniederlegung

18.11.2000 00:00, Standortfriedhof Lilienthalstraße

Reinhard Führer 18.11.2000, Standortfriedhof Lilienthalstraße Volkstrauertag

Eine Stunde des Gedenkens, der persönlichen Betroffenheit, der Trauer. Aber auch eine Stunde der Hoffnung. Der Hoffnung, dass Erinnerung und Trauer in die Zukunft weisen, - in eine Zukunft ohne Hass, ohne Krieg, ohne Leid. Eine Zukunft der Mitmenschlichkeit.

Wir haben uns versammelt, um derer zu gedenken, die durch Krieg und Gewalt ihr Leben verloren haben.

Wir sind zusammengekommen, um zu bekunden, dass wir das Gedenken auch als Herausforderung an die Gegenwart, an uns persönlich, annehmen.

In dieser Stunde der Trauer erinnern wir uns daran, dass es fast immer junge Menschen waren, die als Soldaten in den Krieg geschickt wurden. Die meisten von ihnen sind nicht freiwillig an die Front gegangen. Sie hatten keine Alternative. Sie wurden verpflichtet, eingezogen und viele damit in den Tod geschickt.

Zu Tausenden und Abertausenden leisteten sie den Dienst mit der Waffe, weil sie keine andere Wahl hatten. Viele unter ihnen glaubten anfangs noch, eine Pflicht gegenüber dem Vaterland zu erfüllen.

Als sie erkannten, dass die Mächtigen alle Traditionen und Werte schamlos missbrauchten, an die junge Menschen aufgrund ihrer Erziehung und Ausbildung geglaubt hatten, war es zu spät. Doch ohnehin wäre die Verweigerung des Kriegsdienstes nicht mehr möglich gewesen.

Man muss einmal auf einem Soldatenfriedhof gestanden haben, um zu ermessen, was damals geschehen ist. Für mich persönlich ist ein Gang über den Friedhof in Halbe unvergesslich: dort sind 22.000 Gefallene bestattet. Man muss durch die endlos erscheinenden Reihen der Grabkreuze und Grabsteine gehen und lesen, wie jung die Soldaten waren: geboren 1926, gefallen 1944. Geboren 1928, gefallen 1945... Eine ganze Generation: ausgelöscht.

Junge Menschen, die eine ganz andere Vorstellung für ihr Leben und ihre Zukunft hatten. Junge Menschen mit ihren Sehnsüchten, Träumen und Hoffnungen.

Sie hatten das Recht, Pläne für die Zukunft zu machen - und sie wurden um ihre Zukunft, um ihr Leben betrogen.

Junge Männer, von denen viele bereits eine Familie hatten, eine Verlobte, eine Freundin: Sie fuhren an die Front - und kehrten nie wieder.

Zurück blieben weinende Eltern, Geschwister, Ehefrauen, Kleinkinder, die den Sohn, den Bruder, den Mann, den Vater verloren hatten.

Leid, das nicht in Worte zu fassen ist...

In dieser Stunde erinnern wir uns besonders an die Menschen, die im Zweiten Weltkrieg durch ein verbrecherisches Regime gewissenlos geopfert wurden. Ein Regime, das eine Irrlehre verkündet, in Deutschland die Macht ergriffen und Europa mit Krieg überzogen hatte.

Die Nationalsozialisten haben im deutschen Namen nicht nur anderen Völkern Krieg gebracht und unsägliches Leid zugefügt, sondern auch nicht davor zurückgeschreckt, das eigene Volk zu opfern. Junge Deutsche wurden auch dann noch auf die Schlachtfelder geschickt, als nicht mehr ein Funken Aussicht auf einen Sieg bestand. Bis in die letzten Stunden vor der Kapitulation wurden junge Menschen, ja selbst Kinder, rekrutiert und sinnlos geopfert.

Daran denken wir in dieser Stunde. Der zeitliche Abstand macht den Schmerz der Hinterbliebenen nicht geringer. Denn die Zeit heilt nicht alle Wunden.

Die Toten sind unvergessen. Das Gedenken an sie darf nie zum Ritual werden. Es ist Herausforderung und Verpflichtung - die Verpflichtung, Konsequenzen zu ziehen.

Umso unbegreiflicher ist es, dass eine extremistische Minderheit in unserem Land heute wieder jenes Gedankengut vertritt, das so viel Leid über unser Volk gebracht hat. Deshalb sage ich auch an dieser Stelle: Extremismus und jegliche Gewalt in unserer Gesellschaft müssen auf den gemeinsamen Widerstand aller Demokraten stoßen.

Die große Demonstration am 9. November war eine unmissverständliche Antwort an die kleine Minderheit der Extremisten. Eine Demonstration allein aber genügt nicht. Jeder Einzelne von uns bleibt aufgefordert, gegen die Anfänge eines neuen Unheils vorzugehen, wann und wo immer dies erforderlich ist.

Das sind wir uns selbst und denen schuldig, derer wir heute gedenken.

Das große Werk der Versöhnung zwischen den Völkern, für das auch der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge seit dem Zweiten Weltkrieg verstärkt tätig ist, muss und wird fortgesetzt werden.

Es hat mehr als symbolische Bedeutung, wenn Jugendliche aus vielen Ländern gemeinsam die Gräber auf den Soldatenfriedhöfen pflegen. Diese Gemeinsamkeit, diese persönliche Begegnung setzt Zeichen. Sie macht deutlich, dass es in unserem Land eben a n d e r e junge Menschen gibt als jene wenigen extremistischen Jugendlichen, die in der Öffentlichkeit Aufsehen erregen.

Die jungen Menschen, die auf den Soldatenfriedhöfen tätig sind, ehren die Gefallenen, von denen die meisten nicht viel älter waren als sie selbst es heute sind.

Die jungen Menschen heute haben - im Gegensatz zu ihren Altersgenossen damals - eine Zukunft.

Wenn wir alles dafür tun, dass dies eine Zukunft ohne Hass, Krieg und Leid, eine Zukunft in Frieden und Freiheit ist, erfüllen wir das Vermächtnis derer, die wir heute ehren.