Begrüßung der Präsidentin des Abgeordnetenhauses von Berlin Cornelia Seibeld zur Veranstaltung "Heraus zur Demonstration, übt Solidarität"
08.06.2023 19:00, Abgeordnetenhaus, Festsaal
ich darf Sie alle heute Abend ganz herzlich bei uns im Abgeordnetenhaus von Berlin begrüßen. Schön, dass Sie da sind und sich die Zeit genommen haben für unsere Veranstaltung zum 17. Juni 1953.
Der Volksaufstand in der DDR vom 17. Juni 1953 jährt sich in diesen Tagen zum siebzigsten Mal. Das ist ein guter Anlass, noch einmal auf die damaligen Geschehnisse zurückzublicken. Ich möchte mich deshalb bei Ihnen, Herr Ebert, bedanken, dass Sie mit Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern diese Veranstaltung heute Abend so versiert vorbereitet haben und den politik- oder auch geschichtswissenschaftlichen Diskurs in unser Haus bringen.
Die Frage, die heute Abend eine prominente Rolle spielt, lautet: Inwieweit waren die Proteste und Aufstände in der DDR, die immerhin von mehr als einer Million Menschen rund um den 17. Juni 1953 ausgeübt wurden, Ausdruck von Solidarität?
Ich denke, diese Frage kann bejaht werden. Nicht nur, weil der Begriff „Solidarität“ von den Protestierenden selbst verwendet wurde.
Der Aufruf zur Solidarität heißt ja noch nicht, dass auch am Ende so etwas wie Solidarität existiert hat. Mir scheint es jedoch so zu sein, dass sich die Solidarität mit den Jahren nach der Staatsgründung der DDR langsam aber stetig in der Bevölkerung aufgebaut hat. Und das hatte sehr viel mit der SED-Politik zu tun, mit der die Menschen im Ostteil Deutschlands irgendwie umgehen mussten, ob sie wollten oder nicht.
Ich möchte die Initialzündung der Normenerhöhung, die den 17. Juni auslöste, keineswegs kleinreden. Sie allerdings zur alleinigen Ursache für den Volksaufstand zu benennen, scheint mir zu kurz gegriffen. Die Normenerhöhung war eher der Brandbeschleuniger einer sehr tief sitzenden Unzufriedenheit in der DDR-Bevölkerung.
Wollen wir die Ereignisse rund um den 17. Juni 1953 verstehen, dann sollte der historische Blick die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Aspekte seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges nicht aussparen. Und die waren bezogen auf die Frühgeschichte der DDR durch ein hohes Maß an Unsicherheit und Instabilität gekennzeichnet, was dem Bedürfnis vieler Menschen nach Ruhe und Ordnung widersprach.
Die sozialistische Transformation in der DDR erzeugte dabei radikale Veränderungen, wie zum Beispiel die Enteignungen, die viele Menschen erschreckten und ängstigten. Hinzu kam eine Unberechenbarkeit von Verwaltung, Justiz und SED-Politik, die Rechtstaatlichkeit letztlich völlig unmöglich machte.
Nach den Irrungen und Wirrungen, die der verlorene Zweite Weltkrieg zwangsläufig bei den Deutschen auslöste, machten die Menschen in der DDR vor allem die Erfahrung, dass ihr Leben schlichtweg unberechenbarer wurde. Ungewissheit trübte ihren Blick in die Zukunft. Die politischen Institutionen wurden als bedrohliche Macht empfunden, die von ihnen Anpassung und Zustimmung erwartete.
Recht, Verfassung, Demokratie, Nation, Arbeitermacht und Wohlstand blieben Phrasen, die mit der SED-Herrschaft wenig zu tun hatten. Die Lebensverhältnisse in der DDR wurden zunehmend repressiver. Es hatte sich viel Wut aufgestaut. Nicht nur in den Städten, auch auf dem Land.
Eines ist und bleibt wichtig und sollte auch niemals vergessen werden: Mindestens 55 Tote waren am Ende des Aufstands zu beklagen.
Sie kamen um, weil sie eine andere Meinung vertraten als die SED und die sowjetischen Besatzer vorgaben. Ja, der Volksaufstand in der DDR am 17. Juni 1953 war auch getragen von einer Sehnsucht nach Freiheit und nach nationaler Einheit. An die Menschen zu erinnern, die damals dafür kämpften und starben, macht vor allem dies deutlich: Weder die Freiheit noch die Selbstbestimmung in unserem Land waren von jeher selbstverständlich. Dessen sollten wir uns immer bewusst bleiben.
Ich bin nun gespannt auf die Debatte am heutigen Abend und wünsche Ihnen eine interessante und unterhaltsame Diskussion.
Vielen Dank.