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Blick in den Plenarsaal und hauptsächlich die Flaggen für Deutschland, Berlin und Europa

Begrüßung des Präsidenten des Abgeordnetenhauses von Berlin Ralf Wieland anlässlich der Verleihung der German Jewish History Awards

23.01.2017 18:00, Plenarsaal

Ich freue mich, dass ich Sie heute zur diesjährigen Verleihung der German Jewish History Awards begrüßen darf. Es ist schön, dass Sie wieder so zahlreich erschienen sind, um mit uns gemeinsam die Preisträger zu ehren und auszuzeichnen für ihre historischen Arbeiten, die wirklich wieder einmal beeindruckend sind.   Das Leben auf unserem Kontinent verändert sich. Viel ist von Krise die Rede: Flüchtlingskrise, Ukraine-Krise, Euro-Krise, Schuldenkrise, Sicherheitskrise. Die Liste ließe sich noch fortsetzen. Doch es geht mir heute Abend nicht darum, Sie mit den heutigen europäischen und globalen Problemlagen zu konfrontieren.   Ich möchte stattdessen auf einen Aspekt aufmerksam machen, der fast banal klingt, aber der auch dazu geführt hat, dass wir heute alle bei dieser Veranstaltung sind. Die gegenwärtigen wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen, vor allem aber die politischen Gegebenheiten sind einer ständigen Veränderung unterworfen. Das, was wir heute erleben, das ist irgendwann für spätere Generationen jedoch Geschichte. Und es werden sich eines Tages Geschichtswissenschaftlerinnen und Geschichtswissenschaftler mit unserer heutigen Zeit beschäftigen, um dem auf die Spur zu kommen, was sich verändert hat zwischen dem Gestern und dem neuen Morgen. Sie werden aber auch bemüht sein, die Vergangenheit aus den damals herrschenden Verhältnissen zu verstehen. Das ist eine durchaus schwierige Aufgabe: Zu vermitteln, was damalige Generationen für Lebensumstände hatten, wie sie damit umgingen und was sie veranlasste, so und nicht anders zu handeln.   Unsere heutigen Preisträgerinnen und Preisträger, die sich der Geschichtsforschung verschrieben haben, werden dies bestätigen können. Ludwig Marcuse – nicht zu verwechseln mit Herbert Marcuse – hat dazu einmal gesagt:   „Was in der Gegenwart geschieht, erfährt man in der Regel erst eine ganze Weile später von den Historikern."   Ein netter Satz. Aber trifft es wirklich zu, dass erst Historiker wissen können, was in der einstigen Gegenwart geschah? Mit Verlaub: ich glaube das nicht. Vielleicht lässt sich das eine oder andere Detail nachträglich besser verstehen, einordnen oder erforschen. Doch auch der Gegenwartsmensch kann – sofern er es möchte – das Gegenwärtige analysieren, einordnen und beurteilen. Ich greife hierzu ein Thema auf, um das es auch heute geht, wenn wir auf das Zusammenleben von Juden und Nicht-Juden blicken. Einerseits steht da die Frage im Raum: Konnten die Menschen in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts erkennen, dass die Nationalsozialisten die Juden stigmatisieren und verfolgen würden, wären sie irgendwann an der Macht. Diese Frage lässt sich unzweideutig mit Ja beantworten. In ihrer Programmatik hatte diese Partei keinen Zweifel an ihren Zielen gelassen. Die Entrechtung der Juden war Programm. Das unterstrich frühzeitig auch Hitlers ‚Mein Kampf‘ in aller Deutlichkeit. Verwundert konnte also niemand sein, als die Nationalsozialisten 1933 in die Reichsregierung geholt wurden, dass sie sofort Repressionen gegenüber Juden einleiteten.   Man denke nur an das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums von April 1933, mit dem jüdische Beamte aus dem öffentlichen Dienst anspruchslos entlassen wurden. Das haben die Zeitgenossen mitbekommen. Da gab es keine Zweifel. Ein anderes Thema ist das Wissen um die Existenz der Vernichtungslager im NS-Deutschland und darüber hinaus, die einzig dem Zweck dienten, Juden zu quälen und zu töten.   Noch viele Jahrzehnte nach Kriegsende war der Satz von damaligen Zeitgenossinnen und Zeitgenossen zu hören:   „Wir haben davon nichts gewusst.“   Ich wiederhole noch einmal ganz bewusst den Satz von Ludwig Marcuse:   „Was in der Gegenwart geschieht, erfährt man in der Regel erst eine ganze Weile später von den Historikern."   Ist es wirklich so, wie Marcuse behauptet? Das hieße ja, dass erst die Historikerinnen und Historiker erkennen können, was wie geschah in der Vergangenheit, während die Zeitzeugen ahnungslos bleiben. Natürlich ist es nicht so, um die Frage zu beantworten. Wir wissen, dass die Menschen während der Zeit des NS-Terrors Kenntnis von den Vernichtungslagern hatten. Die wenigsten haben sie vielleicht gesehen, aber die Mund-zu-Mund-Propaganda funktionierte zweifellos damals im Dritten Reich. Oder blicken wir auf die vielen Lager in Berlin, in denen Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene unter katastrophalen Bedingungen kaserniert waren. Sie waren nicht zu übersehen, auch wenn man wegschaute. Nein, der Holocaust ließ sich schon damals nicht leugnen. Wer es heute tut, lernt zu Recht das Strafrecht kennen.   Marcuses Satz ist aber auch in einer anderen Hinsicht problematisch. Dass erst Historiker erkennen können, was in der Vergangenheit geschah, unterstellt ungesagt, dass Historiker objektiv seien. Sie sind es natürlich nicht.  Jeder Mensch hat eine spezifische Wahrnehmung. So auch der Historiker. Und diese Wahrnehmung ist der Filter, die geschichtlichen Objekte in den Blick zu nehmen und sie gegebenenfalls zu bewerten. Es ist deshalb viel ehrlicher, den Historikern keine Objektivität zuzuschreiben. Sie sind wie alle anderen Menschen auch subjektiv. Viel wichtiger ist also, dass Historiker ihre Kriterien offenlegen, nach denen sie die Vergangenheit und die historischen Quellen untersuchen. Denn erst dadurch entsteht Überprüfbarkeit, genauer gesagt: Eine intersubjektive Überprüfbarkeit, die für andere nachvollziehbar wird.   Es ist und bleibt also ein schwieriges Geschäft mit der Geschichte. Es gibt dort, wie in allen Wissenschaften, verschiedene Schulen, heftige Auseinandersetzungen über Methoden, Deutungskämpfe, Meinungsverschiedenheiten. Das ist aber in der Geschichte, anders als das in anderen Wissenschaften zuweilen sein mag. Wenn es revolutionäre Entwicklungen etwa in der diskreten Mathematik gibt, dann bleiben 99,9 % Prozent der Öffentlichkeit reichlich gelassen - so wichtig diese Entdeckungen auch sein können. Wenn es aber zu so etwas kommt wie dem "Historikerstreit" der achtziger Jahre, dann sind viele elektrisiert. Es gibt also keinen Zweifel: Die Geschichte, die historische Wissenschaft und ihre Ergebnisse und Auseinandersetzungen betreffen oft uns alle. Und das geht über die politische Geschichte hinaus, über die ich hier hauptsächlich spreche; das betrifft auch zum Beispiel die Sozial- oder die Mentalitätsgeschichte. Die Ergebnisse geschichtlicher Forschung betreffen uns in unserem Selbstverständnis. Es geht eben nicht nur darum, ob man im Nachhinein irgendetwas weiß oder gar besser weiß, sondern um das Bild, das wir von uns selber haben - denn wir selber sind wir ja nur mit unserer Geschichte.   Die bedeutende Aufgabe, die der Geschichtsschreibung damit zukommt, kann man etwa so - etwas sehr knapp - zusammenfassen: Es gibt keine Identität ohne Geschichte und es gibt keine Geschichte ohne Identität. Zur Ehrlichkeit eines Historikers gehört eben auch: Kein Historiker wird nur die Geschehnisse rekonstruieren, er wird sie immer auch interpretieren. Er wird Narrative entwickeln, in denen die Geschichte, die er untersucht, eingebettet wird. Und das ist es auch, was Geschichte entweder so spannend, so traurig, so unfassbar oder so unglaublich schön wie unglaublich grausam macht. Es sind genau diese Narrative, die uns an Geschichtsschreibung so faszinieren. Die Buch-Bestseller-Listen geben darüber ganz gut Auskunft. Das Erzählerische ist das jedoch eine. Zweifellos: Es ist wichtig, um historische Sinnbilder zu transportieren. Geschichtsforschung ist aber oftmals harte Arbeit. Sehr harte Arbeit sogar. Das ist das andere. Wir erfahren es immer wieder, wenn wir einmal jährlich die German Jewish History Awards verleihen. Die historische Aufarbeitung vor Ort im Lokalen beginnt bei der Suche nach aussagekräftigen Quellen. Sie müssen in den Bezug zum Thema gesetzt werden. Biografien, Stammbäume müssen – oft mühsam – rekonstruiert werden. Zusammenhänge gilt es zu entschlüsseln. Alles das ist – im wahrsten Sinne des Wortes -‚Kärrnerarbeit‘, die nicht immer hinreichend gewürdigt wird.   Und deshalb ist es so wichtig, dass es die Auszeichnung „German Jewish History Award“ gibt, die die regionalen Historikerinnen und Historiker sowie nun auch lokalhistorisch orientierte Institutionen würdigt. Sie gibt ein wenig Anerkennung für das, was an historischer Erinnerungskultur in den lokalen Räumen geleistet wird. Dafür möchte ich allen danken, die sich an dieser Aufgabe beteiligen, natürlich heute Abend ganz besonders den Historikerinnen und Historikern, die einen German Jewish History Award erhalten, auch wenn dies stellvertretend für eine Institution ist.   Danken möchte ich allerdings auch der Arthur Obermayer Stiftung, die es in diesem Jahr wieder möglich macht, die Preise zu vergeben.  Es ist schön, dass die Stiftung ihrer Tradition treu bleibt. Ich darf nun Herrn Joel Obermayer bitten, zu uns zu sprechen.   Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.