1. zur Suche
  2. zur Hauptnavigation
  3. zum Inhalt
  4. zum Bereichsmenü
Blick in den Plenarsaal und hauptsächlich die Flaggen für Deutschland, Berlin und Europa

Begrüßung des Präsidenten des Abgeordnetenhauses von Berlin Ralf Wieland zur Feierstunde anlässlich des 200. Geburtstages des Ehrenbürgers von Berlin Rudolf Ludwig Karl Virchow

16.09.2021 09:00, Abgeordnetenhaus, Plenarsaal

Unser Berliner Ehrenbürger Rudolf Virchow kann auch heute noch begeistern! Vor der Plenarsitzung, die für mich die letzte sein wird, möchte ich Ihnen gern sagen, warum er mich inspiriert. Da ist nicht nur die wirklich lange Zeitspanne von mehr als 40 Jahren, in denen er sich politisch engagierte. Da ist vor allem diese tiefe Leidenschaft für das Parlament.

Virchow selbst – ganz der Mediziner – stellte einmal fest, dass Politik für ihn nichts weiter sei als „Medizin im Großen“. Doch was genau bewegte ihn „Medizin im Großen“ zu betreiben? Anfang des Jahres 1848 untersuchte der damals junge Mediziner im Auftrag der preußischen Regierung die Typhusepidemie in Oberschlesien. Später ordnete Virchow diesen Aufenthalt als sein Schlüsselerlebnis ein. Die Analyse wurde zur Anklageschrift, was die preußische Obrigkeit wenig erfreute. Anders als diese es erwartet hatte, erkannte Virchow nicht etwa den schlechten Boden oder das Wasser als Ursache der Epidemie an. Nein. Aus Virchows Sicht hatten die unhygienischen und ärmlichen Verhältnisse, in denen die unterernährte oberschlesische Bevölkerung lebte, maßgeblich zum Infektionsgeschehen beigetragen.

Von diesen Erkenntnissen wachgerüttelt, forderte Virchow die „volle und unumschränkte Demokratie“, ohne die Wohlstand und Gesundheit nicht zu erreichen seien. Für diese Überzeugung setzte er sich im März 1848 ein und half hier in Berlin beim Barrikadenbau der Revolution. Virchows Engagement blieb für ihn nicht folgenlos. Er tat es trotzdem! Ein Jahr nach der Habilitation verlor er seine Stelle an der militärärztlichen Akademie und verließ die Stadt.

Ich bin mir sicher, dass wir zu seiner dann folgenden wichtigen Schaffenszeit in Würzburg und zu seinem wissenschaftlichen Universalgenie gleich noch etwas vom Regierenden Bürgermeister und Dr. Judith Hahn hören dürfen.

„Medizin im Kleinen“ war sein Wirken abseits der Politik jedenfalls ganz gewiss nicht! Politisch aktiv wurde Virchow erst wieder, nachdem er 1856 nach Berlin zurückkehrte, um dem Ruf auf die für ihn geschaffene Professur für pathologische Anatomie an der Charité zu folgen. 1859 ließ er sich zunächst in die Berliner Stadtverordnetenversammlung wählen, wo er dem liberal-demokratischen Flügel angehörte.

1861 folgte die Wahl in den preußischen Landtag. Beiden Parlamenten gehörte er bis zu seinem Tod im Jahr 1902 an. 1861 gründete er mit einigen Mitstreitern die liberale Deutsche Fortschrittspartei. Für diese wirkte er auch von 1880 bis 1893 im Deutschen Reichstag. Virchow machte das Parlament bewusst zum Zentrum seines politischen Handelns, ein Regierungsamt strebte er unseres Kenntnisstands nach jedenfalls nicht an.

Stattdessen trat er in den Parlamenten vehement für seine Überzeugung ein, die lautete: „Bildung, Wohlstand und Freiheit sind die einzigen Garantien für die dauerhafte Gesundheit eines Volkes.“

Er setzte sich für den Ausbau der staatlichen Gesundheitsversorgung ein und für die Erhebung medizinischer Daten. Auch das sogenannte „Gesetz, betreffend die Schlachtvieh- und Schweinebeschau“ ging auf Virchows Vorschläge zurück. Es sorgte dafür, dass Fleisch als für den Genuss tauglich befunden werden musste und auch heute noch muss. Virchow setzte sich vehement für die Weiterentwicklung der öffentlichen Sozialfürsorge ein. Seine revolutionäre 1848er-Forderung, Unbemittelte in kommunale Krankenhäuser aufzunehmen, wurde für Berlin im Jahr 1874 Realität: Das erste städtische Krankenhaus, erbaut unter Virchows Beratung, wurde am Friedrichshain eingeweiht.

Außerdem trat Virchow für den Bau städtischer Markthallen ein, um den unhygienischen Straßenverkauf einzudämmen. Diesen Ideen folgte die Stadtverordnetenversammlung im Jahr 1883. Der wichtigste Baustein für Berlin dürfte auf politischer Ebene die von ihm gemeinsam mit dem Baurat James Hobrecht geplante Modernisierung der Stadthygiene sein. Kurz zur Erinnerung: Der Unrat landete damals auf den Straßen, Entsorgungen im Rinnstein und dessen Inhalt wiederum in der Spree. Ganz zu schweigen von den unangenehmen Gerüchen, flossen Krankheitskeime zurück in die Brunnen der Stadt. Man kann sich gut vorstellen, dass unter diesem „System“ vor allem die Gesundheit der Bevölkerung litt.

Virchow erkannte das und trat für eine Veränderung ein. Dabei kämpfte er gegen Hausbesitzer, die keine Wasserleitungen legen wollten, und gegen Behörden, die zögerten, die hohen Summen für die Modernisierung bereitzustellen. Immerhin wurde ein Drittel der Stadtkasse benötigt. Doch Kosten und Mühen lohnten sich. Der Bau der Kanalisation begann in den 1870er Jahren. Berlin erhielt als eine der ersten Metropolen Europas eine unterirdische Kanalisation mit zentraler Wasserversorgung. Krankheiten wie Typhus und Cholera konnten so eingedämmt werden, die Sterblichkeitsrate von Säuglingen ging zurück. Ich denke, jede und jeder hier im Saal weiß, dass Politik nicht allein aus Erfolg und Erfüllung besteht. Auch in Virchows politischer Laufbahn gab es Spannungen. Im preußischen Landtag war er 30 Jahre Vorsitzender der Rechnungskommission und kontrollierte die Ausgaben der Regierung. Im preußischen Verfassungskonflikt von 1861 bis 1866 ging es um die Frage des parlamentarischen Bewilligungsrechts für den Heeresetat in Preußen, übergeordnet aber eher darum, wie die Macht zwischen Parlament und Monarchie zu verteilen war. Zum Ärgernis von Virchow – dessen Fraktion im preußischen Abgeordnetenhaus die Anhebung der Militärausgaben ablehnte – setzte sich der damalige preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck über das Budgetrecht des Parlaments hinweg. In diesem Konflikt forderte Bismarck Virchow nach einer hitzigen Parlamentsdebatte sogar zum Duell, das dieser allerdings ablehnte.

Eine weitere Auseinandersetzung Virchows und Bismarcks brachte der Kulturkampf in den 1870er-Jahren mit sich. Zunächst unterstützte Virchow die Forderung Bismarcks, Kirche und Staat strikt voneinander zu trennen, da ihm der Einfluss des Religiösen auch im wissenschaftlichen Bereich zu stark war. Als er später jedoch verstand, dass es Bismarck vorrangig um Machtinteressen gegangen war, nicht um die Durchsetzung liberaler Prinzipien, bereute er seine Haltung wieder.

Insgesamt kann man sagen, dass Rudolf Virchow ohne Zweifel jemand war, der seine Erfahrungen aus der Praxis in die Parlamente einbrachte. Medizinische und politische Forderungen waren für ihn kaum trennbar. Er blieb im Parlament ganz der Wissenschaftler, der sich Problemlagen sachlich-neutral und wissbegierig ansah. Entdecken wollen, die Dinge bis ins letzte Detail verstehen, Erkenntnisse gewinnen und sie wieder verlieren, scheitern können, neue Wege einschlagen, erkennen, dass die Dinge sich ändern, Meinungsverschiedenheiten aushalten – das zeichnet die wissenschaftliche Denkweise aus.

Sie ist der parlamentarischen Arbeitsweise dabei nicht ganz unähnlich, geht es doch um den fortwährenden Erkenntnisgewinn, um gute Lösungen für Gegenwart und Zukunft. Virchow lebte das und er prägte unsere Stadt auf diese Weise. Das macht ihn zu einem unvergesslichen Vorbild für uns Berlinerinnen und Berliner.

Vielen Dank.