Begrüßungsansprache der Präsidentin des Abgeordnetenhauses von Berlin Cornelia Seibeld zur "Gedenkstunde zum 70. Jahrestag des 17. Juni 1953"
15.06.2023 09:00, Abgeordnetenhaus, Plenarsaal
Wenn wir heute den 70. Jahrestag des 17. Juni 1953 in den Mittelpunkt unserer Gedenkstunde stellen, dann um all die Menschen zu ehren, die damals in der DDR auf die Straße gingen. Sie demonstrierten und protestierten gegen die kommunistische Diktatur, um in Frieden und Freiheit in einem geeinten Deutschland zu leben. Ja, der 17. Juni 1953 war ein Vorläufer des 9. November 1989. Das wissen wir heute. Und auch wenn der Volksaufstand von 1953 nicht erfolgreich war, so waren die Wünsche und Sehnsüchte der Menschen 1953 identisch mit denen der Menschen, die 1989 die Berliner Mauer zum Einsturz brachten und die SED-Diktatur beendeten.
Wie sehr der Schatten des 17. Juni noch 1989 nachwirkte, zeigt eine Frage von Stasi-Minister Erich Mielke am 31. August 1989 an seine Generäle: „Ist es so, dass morgen der 17. Juni ausbricht?“ Natürlich widersprachen die Generäle und zementierten damit einen eklatanten historischen Irrtum. Aber die Frage machte eines deutlich: Die SED-Oberen hatten 1989 ihr Trauma vom Juni 1953 noch nicht überwunden. Die nachwirkende Kraft geschichtlicher Ereignisse wurde so evident.
Meine Damen und Herren,
am Anfang steht die Bilanz der Tage rund um den 17. Juni 1953. In über 700 Städten und Gemeinden der DDR wurde die Arbeit niedergelegt. Mehr als 1.000 Betriebe wurden bestreikt, 250 öffentliche Gebäude besetzt, darunter SED-Einrichtungen und Büros des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes. Auch Kreisdienststellen des Ministeriums für Staatssicherheit sowie Reviere der Volkspolizei waren darunter. Hinzu kam, dass die Protestierenden Haftanstalten belagerten, um politische Häftlinge zu befreien. Das gelang in 1.500 Fällen.
Interessant waren auch die Parolen, die damals kursierten: „Freie Wahlen“, „Nieder mit der SED“, „Wiedervereinigung“, „Freilassung aller politischen Häftlinge“, „Rücktritt der Regierung“ und „Abzug aller Besatzungstruppen aus Deutschland“. Es ist unverkennbar, dass der Aufstand kein sozialer Protest allein war, sondern dass es sich im Kern um einen politischen Aufstand handelte. Wut hatte sich angestaut gegenüber der kommunistischen Diktatur. Sie sollte abgeschafft werden. Das war die eigentliche Stoßrichtung der Aufstände am 17. Juni 1953. Und so war der 17. Juni 1953 acht Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges in erster Linie eine Freiheitsbewegung in der noch nicht gänzlich abgeschotteten DDR. Durch die Überwindung der existierenden Ordnung sollte die Deutsche Einheit erreicht werden.
Wir alle wissen, dass die Aufstände rund um den 17. Juni scheiterten. Die sowjetischen Panzer und die brachiale Gewalt vor allem der sowjetischen Besatzungsmacht gegenüber den Protestierenden beendeten diese erste Revolution auf dem Boden der DDR.
Meine Damen und Herren,
am Ende dürfen wir die Menschen nicht vergessen, die damals in den Auseinandersetzungen starben. Insgesamt sind Todesfälle von vier Frauen und 51 Männern belegt, die im Zusammenhang mit dem 17. Juni stehen. 34 Demonstranten wurden von Volkspolizisten oder sowjetischen Soldaten erschossen. Fünf Menschen wurden von Instanzen der sowjetischen Besatzungsmacht zum Tode verurteilt, zwei von DDR-Gerichten. Acht Menschen starben in der Haft, vier von ihnen begingen Selbstmord. Ein Demonstrant starb an Herzversagen während des Sturms auf ein Volkspolizei-Revier. Die fünf verbleibenden Toten waren Volkspolizisten und MfS-Mitarbeiter.
Ich möchte nun schließen mit dem Ausspruch eines Redners auf einer Massenkundgebung in Paris Anfang Juli 1953, der die Volkserhebung in der DDR so bewertete. „Die Arbeiter von Ostberlin haben Deutschland seine Würde zurückgegeben.“
Abgesehen davon, dass nicht nur „die Arbeiter von Ostberlin“ revoltierten: Dieser zeitgenössischen Botschaft habe ich nichts weiter hinzuzufügen.
Vielen Dank.
Bevor ich nun das Wort an unseren Regierenden Bürgermeister Kai Wegner übergebe, möchte ich Ihnen, Herr Bundespräsident Gauck, noch einmal ganz herzlich danken, dass Sie sich heute die Zeit genommen haben, zu uns zu sprechen. Ich bin mir sicher, es wird uns eine Freude sein, Ihnen zuzuhören. Also nochmals: Schön, dass Sie da sind.