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Blick in den Plenarsaal und hauptsächlich die Flaggen für Deutschland, Berlin und Europa

Begrüßungsansprache des Präsidenten des Abgeordnetenhauses von Berlin Ralf Wieland anlässlich der Feierstunde "30 Jahre Friedliche Revolution und Mauerfall"

08.11.2019 11:00, Abgeordnetenhaus

Die Erinnerung – sie trägt uns wahrlich durch lange Zeiten. Aber sie prägt uns auch. Und das ebenfalls für eine lange Zeit. Wenn es ein jüngeres historisches Ereignis gibt, das diesen Zusammenhang auch heute noch immer wieder deutlich macht, dann ist es die Maueröffnung vom 9. November 1989. Was für ein Ereignis – hier mitten in Berlin. Ich weiß nicht, wie es Ihnen ergeht: Ich bekomme noch heute „Gänsehaut“, wenn ich an die Bilder denke, die meine Augen am Abend des 9. November an der Bösebrücke aufgenommen haben. Ich trage sie noch in mir, diese Bilder. Und ich werde diese Szenen in mir haben für all meine Zeit. Diese Maueröffnung – sie hat vieles verändert. Nicht nur in Berlin und Deutschland. Nein, unser ganzer europäischer Kontinent erodierte. Und mit ihm das Gefüge der Welt. Die bipolare Welt löste sich auf.

In Osteuropa und in der DDR trat die Demokratie einen rasanten Siegeszug an. Das was gestern noch gültig war, zählte heute schon nicht mehr. Und: Wir alle lernten, Europa neu zu verstehen. Europa hatte als Kontinent endlich eine Vision – eine Vision, die alle teilten, die alle leben wollten. Das Gemeinsame Europäische Haus. Die Bilder der Maueröffnung, sie gehen in diesen Tagen wieder um die Welt. Sie zeigen unser Berlin im Ausnahmezustand. Denn über Nacht war Berlin nicht länger geteilt.

Meine Damen und Herren, die meisten Menschen in der DDR waren einfach nur desillusioniert. Schon länger. Das zeigt auch ein Blick in die DDR-Provinz im Jahr 1989. Es gibt ein Gedicht, geschrieben von einem jungen Thüringer – Günter Sattler heißt er und er lebte in Arnstadt -, das zeigt, wie viele Menschen inzwischen in der DDR 1989 fühlten und dachten. Günter Sattler war kein Literat, aber das Gedicht ist sehr authentisch. Lassen Sie mich aus dem Gedicht „WAS FÜR EIN LEBEN?“ zitieren:

was für ein leben? wo die freiheit tot geboren, wo schon scheint alles verloren.

was für ein leben? wo alte männer regieren, wo noch menschen an grenzen krepieren.

was für ein leben, wo die angst den alltag bestimmt, wo das ende kein ende nimmt.

was für ein leben? wo man nicht sein kann, der man ist, wo man so schnell vergisst.

was für ein leben? wo es für wenige alles gibt, wo der kleine keinen ausweg sieht.

Schon diese wenigen Zeilen machen deutlich, weshalb die Menschen 1989 erst zögerlich, dann aber in Massen auf die Straße gingen. Es macht deutlich, welcher Mut, welche Zivilcourage mittlerweile bei den Menschen wie Günter Sattler vorherrschte. Was Günter Sattler mit seinem Gedicht im Kleinen anschob, mündete in der großen Betrachtung ein in den Vollzug einer großartigen Revolution. Großartig deshalb, weil es kein Blutvergießen, keine Todesopfer gab. Diese Revolution blieb friedlich. Aber sie hatte Erfolg, weil sie Hunderttausende in der gesamten DDR auf die Straße trieb – für Freiheit und für Selbstbestimmung.

Meine Damen und Herren, dass es am Ende kein Blutvergießen und keine Todesopfer gab, anders als am 17. Juni 1953, hatte vor allem einen Grund, so ehrlich müssen wir sein: Die sowjetischen Panzer blieben in den Kasernen. Wir wissen: Das war die Entscheidung eines einzelnen Politikers und Staatsmannes, die nicht ohne Kritik in den eigenen Reihen blieb. Michail Gorbatschow hat mit diesem Entschluss nicht nur Deutschland, nein er hat ganz Europa eine neue Zukunftschance eröffnet. Wir werden deshalb diesem Mann, wir werden Michail Gorbatschow für immer dankbar sein. Er ist zu Recht Berliner Ehrenbürger!

Meine Damen und Herren, seit Beginn der 1980er Jahre gab es bereits einen zivilgesellschaftlichen Aufbruch in der DDR, getragen von Bürgerrechtlern und kleinen Oppositionsgruppen. Es waren anfangs Wenige, die meist unter dem Dach der Kirchen Themen wie Frieden, Bewahrung der Umwelt, Demokratie, Menschenrechte, Grundfreiheiten diskutierten. Doch im Laufe der Jahre wurden es immer mehr. Diese Menschen strebten nach Reformen in der DDR, wurden von der Stasi verfolgt, landeten nicht selten im Gefängnis. Auch Ihnen, den Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtlern, gebührt gerade an einem Tag wie dem heutigen Respekt. Sie haben das Verdorbene der Diktatur veranschaulicht, und mit ihrem Vorbild brachten sie viele Menschen zum Nachdenken und Umdenken. Diesen Mut muss man erst einmal aufbringen. Deutschland und Berlin hat auch diesen meist stillen Helden viel zu verdanken. Auch auf diese frühen Oppositionellen kann unser Land, kann unsere Stadt wahrlich stolz sein. Und ich blicke auf die Kirchen, die diesen Menschen ein schützendes Dach gab. Auch auf sie können wir mit Dankbarkeit blicken.

Meine Damen und Herren, die Macht einer Diktatur – sie gründet in der Verbreitung von Angst. Das ist so und wird auch immer so sein. Die Demokratie hingegen lebt von der Freiheit. Sie braucht die Angst nicht als Herrschaftsinstrument. Die erste Nacht der Maueröffnung vor dreißig Jahren war gleichzeitig der letzte Tag einer Diktatur auf deutschem Boden. Sorgen wir deshalb alle gemeinsam weiterhin dafür, dass wir in Frieden, in Freiheit und in sozialer Sicherheit leben. Und lassen wir nicht zu, dass die Demokratie und die Freiheit in ganz Deutschland angefeindet und ausgehebelt werden. Weder von außen, noch von innen. Ich denke, das sind wir uns selbst schuldig. Aber wir sind es vor allem den Opfern der SED-Diktatur schuldig. Und unser Dank gilt den Frauen und Männern, die ehrlichen Herzens diese Revolution auf den Straßen der DDR vorangetrieben haben und so die Öffnung der Berliner Mauer erzwangen. Das war einer der größten Momente in unserer Geschichte. Die Maueröffnung zu feiern, wie am heutigen Tag, macht glücklich, aber auch demütig vor unserer eigenen Geschichte.

Ich danke Ihnen.