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Blick in den Plenarsaal und hauptsächlich die Flaggen für Deutschland, Berlin und Europa

Begrüßungsrede der Präsidentin des Abgeordnetenhauses von Berlin Cornelia Seibeld zur Verleihung der Louise-Schroeder-Medaille an das Projekt "Housing First"

30.08.2023 18:00, Abgeordnetenhaus, Festsaal

Wenn wir heute die Louise-Schroeder-Medaille an das Projekt „Housing First“ verleihen, dann ehren wir damit auch Louise Schroeder selbst, machen auf sie aufmerksam, indem wir an sie erinnern. Louise Schroeder war ohne Frage eine starke Persönlichkeit, eine starke Frau, die es in der Zeit der Weimarer Republik in die Politik verschlagen hat, weil sie der festen Überzeugung war, dass die soziale Benachteiligung vor allem der schwer arbeitenden Bevölkerung ein Ende finden musste.

Es kann deshalb auch nicht überraschen, dass sie die Arbeiterwohlfahrt 1919 mit begründete. Zudem war sie stets eine Vorkämpferin für die Gleichstellung der Frauen. Louise Schroeder war eine durch und durch politische Frau. Das lag auch an der Sozialisation in ihrem Elternhaus. Der Vater war fest verankert in der Sozialdemokratie. Damals im Deutschen Kaiserreich war die SPD mehr als nur Partei – die Sozialdemokratie war ebenso eine Kulturbewegung der Arbeiterinnen und Arbeiter. In ihr wuchs Louise Schroeder auf und so wurde die SPD gleichzeitig ihre politische Heimat. 1910 trat sie ihr bei. Schnell machte sie nach dem ersten Weltkrieg in der SPD in Altona Karriere, erlangte 1919 als eine der ersten Frauen einen Sitz in der deutschen Nationalversammlung.

Bis zur nationalsozialistischen Machtergreifung blieb sie Mitglied des Deutschen Reichstags. Während der Zeit des Dritten Reiches lebte Louise Schroeder zurückgezogen in Hamburg und war dort für ein Bauunternehmen tätig. Über diese Zeit im Leben Louise Schroeders wissen wir nur wenig. Es fällt jedenfalls auf, dass sie nicht inhaftiert, gefoltert oder anderweitig von der Gestapo verfolgt wurde, obwohl sie in der SPD eine Führungsperson gewesen war.

Was mir persönlich sehr an Louise Schroeder imponiert – das war ihr Mut. Der bayerische Reichstagsabgeordnete Wilhelm Hoegner schilderte in seiner Autobiografie, wie sehr die SPD-Fraktion am 23. März 1933 mit sich selbst gerungen hat, ob sie überhaupt an der Reichstagssitzung desselben Tages teilnehmen sollte. Es war der Tag, an dem das Ermächtigungsgesetz beschlossen werden sollte.

Es ging um die Abschaffung der parlamentarischen Demokratie in Deutschland. Nicht weniger stand auf der Tagesordnung der Reichstagssitzung. Die Nazis hatten vor und in der Kroll-Oper eine massive Drohkulisse durch die SA aufgebaut, um die Reichstagsabgeordneten notfalls auch mit Gewalt an der Ausübung ihrer Mandate zu hindern.

Folglich war die SPD-Fraktion gespalten in der Frage, ob sie überhaupt an der Sitzung teilnehmen sollte. Viele Abgeordnete fürchteten schlicht um ihr Leben. Nach Wilhelm Hoegner war es dann Louise Schroeder, die sich an die Fraktion wandte und unmissverständlich klar machte, dass sie auf jeden Fall an der bevorstehenden Reichstagssitzung teilnehmen werde.

Damit war klar: Hinter diesen weiblichen Mut konnte niemand aus der Fraktion mehr zurückfallen. Und so kam es dann zum historischen Moment, dass die SPD-Fraktion geschlossen in die Kroll-Oper ging, um am 23. März 1933 gegen das Ermächtigungsgesetz zu stimmen – also gegen die Abschaffung der Demokratie in Deutschland. Unvergessen dabei auch die Rede des Fraktionsvorsitzenden Otto Wels, mit der er das Nein der SPD begründete.

Sie gipfelte in dem bis heute Gänsehaut erzeugenden Satz an Adolf Hitler: „Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht.“

Besonders in Erinnerung haben wir Berlinerinnen und Berliner Louise Schroeder jedoch als Oberbürgermeisterin unserer Stadt. Sie übernahm die Aufgabe am 17. April 1947 kommissarisch, weil der Oberbürgermeister Otto Ostrowski zurücktrat. Und sie blieb im Amt, da die Ernennung Ernst Reuters zum neu gewählten Oberbürgermeister durch das Veto der sowjetischen Besatzungsmacht blockiert wurde.

Auch als Oberbürgermeisterin zeigte Louise Schroeder wieder sehr viel Mut, indem sie der sowjetischen Besatzungsmacht den zunehmenden Einfluss auf die Amtsgeschäfte des Magistrats verweigerte. Es ging ihr dabei gar nicht so sehr um die hohe Politik. Ihr politischer Ansatz war so kurz nach dem Krieg ein durchaus naheliegender, weil er die geschundenen und ausgemergelten Menschen in den Blick nahm, damit sie schon bald wieder „Arbeit, Brot, Kleidung, ein Heim“ haben würden.

Natürlich ist die Wohnraumversorgung nach dem Zweiten Weltkrieg eine der wichtigsten Aufgaben im zerbombten Berlin der Nachkriegszeit gewesen. Damals gab es nicht nur Wohnungsnot in Berlin, es war eine Katastrophe. Die meisten Gebäude waren zumindest zum Teil zerstört, Menschen waren obdachlos und es herrschte akuter Mangel an nicht zerstörtem Wohnraum. Doch Louise Schroeder ließ sich auch hier nicht entmutigen. Sie erkannte gezwungenermaßen die Dringlichkeit der Lage und setzte sich energisch für den Wiederaufbau der Häuser ein. Und das hieß zunächst, die Schuttwüsten aufzuräumen, um ein wenig Ordnung in einem unvorstellbaren Chaos zu schaffen. Es galt Berge von Trümmern zu beseitigen, um wieder einen Boden zu finden, auf dem aufgebaut werden konnte.

Mit diesen unglaublichen Zuständen lässt sich die Knappheit an Wohnungen, die es heute gibt in Berlin, nicht vergleichen. Und dennoch: Wenn Wohnungen rar sind, trifft es die Menschen am härtesten, die obdachlos oder von Wohnungslosigkeit bedroht sind. Und gerade Frauen haben es in dieser Situation besonders schwer, weil das Leben ohne ein Dach über dem Kopf für sie besonders gefährlich ist. Diesen Frauen zu helfen, ihnen einen Zugang zu einer Wohnung zu ermöglichen, ist ein enorm wichtiger Beitrag auf dem Weg zu einer wirklich sozialen Stadt. Und deshalb würdigen wir in diesem Jahr das Projekt „Housing First“, würdigen wir die Arbeit des Sozialdienstes Katholischer Frauen und anderer Träger mit der Verleihung der diesjährigen Louise-Schroeder-Medaille. Sie leisten Großartiges.

Das Bestechende an „Housing First" ist: Es ist ein Konzept, das auf einem einfachen, aber kraftvollen Gedanken basiert. Obdachlosen Menschen wird zuerst eine stabile und dauerhafte Unterkunft zur Verfügung gestellt, bevor sie an anderen Problemen arbeiten müssen. Anstatt Bedingungen zu stellen oder eine Abstinenz von Suchtmitteln zu verlangen, wird den Betroffenen eine Wohnung als Grundlage für ihre Rehabilitation und soziale Integration gegeben.

Das Projekt „Housing First“ ist jedoch mehr als nur eine bloße Unterbringung. Es ist ein ganzheitlicher Ansatz, der auch umfassende soziale Unterstützung und Hilfestellung bietet. Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter stehen den Frauen zur Seite, um sie bei der Bewältigung ihrer individuellen Probleme zu unterstützen, sei es bei der Suche nach Arbeit, sei es bei gesundheitlichen Anliegen oder sei es beim Aufbau eines sozialen Netzwerks. Das scheint mir ein entscheidender Punkt zu sein, um die Aussicht auf Erfolg zu erhöhen.

Mich hat besonders die „Erfolgsquote“ dieses Projektes sehr beeindruckt. Keine einzige Wohnungsvermittlung ist bislang gescheitert. Keine. Und auch darum finde ich diese Preisverleihung so wichtig: ich hoffe sehr, dass mehr Vermieter auf Ihre Initiative aufmerksam werden und Ihnen Wohnungen zur Vermittlung zur Verfügung stellen – denn nur so können Sie ihre Arbeit fortführen und ausbauen.

Was hätte wohl Louise Schroeder zum Projekt „Housing First“ als diesjährige Preisträgerin gesagt? Ich denke, sie hätte die Auswahl von ganzem Herzen unterstützt. Ja, sie wäre begeistert gewesen, weil es so ganz ihrem sozialen Wesen entsprochen hätte: Niemanden zurücklassen, ihn nicht aufgeben, stattdessen zu helfen, um wieder ein normales Leben führen zu können.

Bleibt mir nur noch zu sagen: Vielen Dank, liebe Projektmacherinnen und –macher. Bleiben Sie am Ball. Sie leisten Fantastisches.

Meine Damen und Herren,
ich möchte nun noch einen ganz besonderen Dank aussprechen. Er gilt den Mitgliedern des Louise-Schroeder-Kuratoriums für die in der 18. und bisherigen 19. Wahlperiode geleistete Arbeit. Aufgrund der Wiederholungswahl vom Februar müssen wir demnächst neue Kuratoriumsmitglieder wählen.

Aber ich kann sagen: Jahr für Jahr haben Sie entscheidend dazu beigetragen, dass wir immer wieder tolle Preisträgerinnen hatten. Sie haben ganz im Sinne Louise Schroeders Ihre Vorschläge unterbreitet. Das war großartig. Und dafür sage ich Ihnen allen noch einmal herzlichen Dank.