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Blick in den Plenarsaal und hauptsächlich die Flaggen für Deutschland, Berlin und Europa

Einführung über das Buch von Rainer Sandvoß 'Die 'andere' Reichshauptstadt'

26.09.2007 19:00, Willy-Brandt-Haus

Walter Momper 26.09.2007, Willy-Brandt-Haus

Einführung des Präsidenten des Abgeordnetenhauses von Berlin, Walter Momper, über das Buch von Rainer Sandvoß 'Die 'andere' Reichshauptstadt' am Mittwoch, dem 26. September 2007, 19.00 Uhr, im Willy-Brandt-Haus ____________________________________________

- Es gilt das gesprochene Wort -

Das Werk von Rainer Sandvoß über 'Die 'andere' Reichshauptstadt', also die Geschichte des Widerstandes in Berlin der Nazi-Zeit stützt sich auf die Prozessunterlagen des Volksgerichtshofes, des Berliner Kammergerichts und der Sondergerichte sowie rund 480 Interviews mit Zeitzeugen und der Auswertung von über 1.700 Entschädigungs- bzw. Verfolgtenakten der unmittelbaren Nachkriegszeit. Das Werk geht der Frage nach, ob es - wie oft behauptet ('Hitlers Berlin') - tatsächlich gelungen war, die Berliner Arbeiterbewegung zwischen 1933 und 1945 fast restlos zum Verstummen zu bringen.

Am Anfang dieser Dissertation steht die notwendige - ganz sorgfältig gearbeitete wissenschaftliche Erörterung und kritische Bewertung des Forschungsstandes und der bisherigen Aussagen zu diesem Thema. Die bisherigen Werke schwanken zwischen einer totalen Korrumpierung der Arbeiterschaft oder - vice versa - deren weitgehender Immunisierung gegenüber dem Nationalsozialismus. Zu berücksichtigen ist auch, dass die Spaltung der Stadt auch zu einer starken Behinderung der unabhängigen wissenschaftlichen Aufarbeitung der Widerstandereignisse führte.

Dann beschreibt der Autor in vier Kapiteln die unterschiedlichen oppositionellen 'Zentren'. Diese Vorgehensweise ist dem Gegenstand angemessen, denn nach der terroristischen Zerschlagung 1933 ('Gleichschaltung') existierten die Arbeiter- und Gewerkschaftsgruppen nur noch zersplittert im Untergrund. Eine einheitliche Widerstandsorganisation - etwa im Vergleich zu nationalen Widerstandsgruppierungen anderer Länder -, gab es nicht. Im Gegenteil: Die Gruppen waren politisch untereinander verfeindet, mindestens aber voneinander isoliert.

Es darf nämlich nicht vergessen werden, dass die Kommunistische Internationale seit 1928 (bis 1935) die Sozialdemokraten bzw. demokratischen Sozialisten als Hauptfeind bekämpfte und nur eine Arbeitereinheitsfront unter der Führung der KPD zuließ. Noch um die Jahreswende 1933/1934 wurde eine Flugschrift der illegalen KPD unter dem Titel 'Der Rote Stürmer' verbreitet, in der die - längst in Gefängnissen und Konzentrationslagers leidenden - Sozialdemokraten als Helfershelfer Hitlers und 'sozialfaschistische Arbeiterverräter' diffamiert werden.

Gerechterweise muss aber in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen werden, dass die Kommunistische Internationale auf ihrem VII. Weltkongress 1935 rückblickend diese verhängnisvolle Strategie verurteilte. Doch die bald einsetzenden stalinistischen Schauprozesse schufen weit schlimmere Belastungen für das Verhältnis zwischen Sozialdemokraten, Sozialisten und Kommunisten.

Nach den Sozialdemokraten - über die Rainer Sandvoß am heutigen Abend ausführlicher sprechen wird - nimmt sich der Autor im zweiten Kapitel seines Werks der unterschiedlichen sozialistischen und kommunistischen Gruppierungen und kleineren Parteien an.

Mit Akribie werden die verschiedenen 'rechten' und 'linken' Abspaltungen der beiden großen Arbeiterparteien SPD und KPD anhand von Gerichtsunterlagen und Interviews (so mit Ernst Froebel und Erwin Beck) sehr lebendig geschildert. Die Namen dieser - manchmal nur einhundert Personen umfassenden - kleinen Gruppen sagen oft nur noch den Älteren etwas. Im Falle der als 'SAP' abgekürzten Sozialistischen Arbeiterpartei denkt man heute eher an eine moderne Computerfirma. Aber die SAP und die anderen verdienen doch die große Aufmerksamkeit und Respekt, den der Autor ihnen entgegenbringt, zu recht! Immerhin wurden über 350 Berlinerinnen und Berliner wegen Zugehörigkeit zu diesen Gruppierungen verfolgt und angeklagt. Auch diese eher Unbekannten dürfen nicht vergessen werden! Auch sie standen und stehen für das bessere Deutschland.

Das größte, über zweihundertfünfzig Seiten umfassende, Kapitel ist der KPD vorbehalten. Was der Autor hier erstmals für die Berliner Szene - und wohl auch darüber hinaus - an Schilderungen der verschiedenen kommunistischen Nebenorganisationen wie dem Kommunistischen Jugendverband oder die Rote Hilfe und des noch weitgehend unbekannten Geheimapparats ('AM'-Apparat) bietet, ist faszinierend und bestürzend zugleich.

Im Gegensatz zur SPD und den sozialistischen und kommunistischen Kleingruppen hat die KPD ihre Mitglieder kaum geschont, sondern oft in leichtsinnig geplanten, unkonspirativ durchgeführten Aktionen 'verheizt'. Das mindert nicht den Respekt vor dem Mut und der Zivilcourage der einzelnen Widerstandskämpfer, lässt aber insgesamt Zweifel an der Güte und Umsicht des kommunistischen Untergrundkampfes aufkommen. Selbst nach vorsichtigen Berechnungen des Autors sind mindestens 3.500, wahrscheinlich sogar über 5.000 Berliner Kommunisten zwischen 1933 und 1945 für kurze oder längere Zeit in Haft geraten; einige Hundert mussten ihr Leben lassen. Das sind beeindruckende Zahlen. Manchmal haben die Gruppen und ihre Funktionäre der Gestapo das Auffinden der Personen des Widerstandes erleichtert, weil sie zum Beispiel namentliche Spendenlisten mit den Namen der illegalen KPD-Mitglieder angelegt haben. Mit diesem naiven und törichten Verhalten haben sie den Nazi-Schergen das blutige Handwerk erleichtert.

Es spricht für die wissenschaftliche Nüchternheit des Autors, dass er auch kommunistische Widerstandskämpfer zitiert, die leichtfertige Untergrundpraktiken der eigenen Partei einer harten Kritik unterziehen. Womit deutlich wird, dass es nicht die Typologie des Kommunisten gab, sondern auch dort Differenzierung geboten ist. Ja es gab einige KPD-nahe Arbeitergruppen, die - beispielsweise - den Anschluss an die letzte kommunistische Widerstandsorganisation um Anton Saefkow und Franz Jacob (1943/1944) verweigerten, weil Saefkow von ihnen eine namentliche, schriftliche Zusammenstellung ihrer jeweiligen Funktionäre und Anhänger verlangte!

Rainer Sandvoß ist für seine unglaublich fleißige Arbeit sehr zu loben. Von Kritikern allerdings, die sich der untergegangenen kommunistischen Arbeiterbewegung verbunden fühlen, ist ihm die Kritik an den Schattenseiten des Kommunismus vorgehalten worden.

Diese Kritiker wollen wohl wenigstens den tapferen Widerstand der KPD gegen die Nazis als 'Glanzpunkt' kommunistischer Geschichte bewahren. Dazu ist zu sagen, dass es ja Rainer Sandvoß, zusammen mit Peter Steinbach und Johannes Tuchel waren, die in West-Berliner Zeiten, als das gar nicht populär war, für die Anerkennung des kommunistischen Widerstandes gestritten haben. Im übrigen: hat vor ihm (vor Sandvoß) ein Berliner Wissenschaftler den Untergrundkampf der KPD in der deutschen Hauptstadt so ausführlich erforscht und kenntnisreich dargestellt wie Sandvoß mit dem vorliegenden Buch? Man kann von ihm doch keine Heldenlegenden erwarten!

Das Nebeneinander von 'Licht und Schatten' darf nicht verschwiegen werden, wenn man sich einer seriösen Aufarbeitung der Vergangenheit verpflichtet fühlt. Allein ein Blick in den - in einem Exkurs geschilderten - Abschnitt über die Genossenschaftssiedlung 'Freie Scholle', eine frühere SPD-Hochburg, belegt, dass Sandvoß auch die Sozialdemokratie nicht mit Kritik verschont, nicht verschonen will.

Im letzten Kapitel, jenem über 'Widerspruch und Opposition auf betrieblicher Ebene', gelingt dem Autor ein hochinteressanter Blick in die Arbeitswelt, die im Gegensatz zu den anderen Abschnitten des Buches nicht an einer Parteiorganisation orientiert geschildert wird, sondern gewissermaßen an der Gesamtheit der Arbeiterbewegung. Man erfährt von starken Vorbehalten Berliner Arbeiterkreise gegen die nazistischen 'Gleichschaltungsbestrebungen', so endeten die so genannten Vertrauensrätewahlen 1936 mit einer peinlichen Niederlage der Nazistrategen, die in den Jahren danach keine Wiederholung wagten.

Wir erfahren darüber hinaus von einer sehr differenzierten betrieblichen Welt: Es gab besonders im Norden und Süden der Stadt einzelne Zentren starker Konzentration von Oppositionellen, wo auch Sabotage der Rüstungswirtschaft betrieben wurde. Dabei sind immer wieder jene Facharbeiter der Kern von Widerstandaktionen bzw. des solidarischen Verhaltens gegenüber jüdischen und ausländischen Zwangsarbeitern, die noch durch die humanitären und freiheitlichen Traditionen der alten Arbeiterbewegung geprägt worden waren. Deren Anhängerschaft - so weist Rainer Sandvoß nach - ging weit über die Zahl der im Untergrundkampf engagierten Widerstandskämpfer hinaus. Wiederholt gelang es, Verfolgten zu helfen, das Leben 'Untergetauchter' zu retten.

Bei all dem Erschütternden, was wir über Erfolge und Misserfolge von Widerstandsgruppen erfahren, die wichtigste Erkenntnis aus Sandvoß' Forschungsarbeit ist, dass dem Nationalsozialismus die restlose Vernichtung der Arbeiterbewegung nicht gelungen ist! Es gab immer Widerstand, Opposition und Gegnerschaft - mal mehr, mal weniger - und nicht erst am 20. Juli 1944!

Die verkürzte Sicht mancher Wissenschaftler oder Zeitungsautoren, die vorschnell und undifferenziert meinen, durch den Hinweis auf die absolute Minoritätenrolle der Widerstandskämpfer pauschal 99 % des deutschen Volkes zu Anhängern oder Profiteuren des Naziregimes erklären zu können, ist zumindest für Berlin durch das vorliegende Buch 'Die >andere< Reichshauptstadt' widerlegt.

Es bleibt zum Abschluss die schwierige Frage, inwieweit Berliner Ereignisse typisch oder untypisch für Deutschland waren. Man sieht, es gibt immer wieder Fragen, für die wir die historische Forschung brauchen, um unsere Vergangenheit kritisch betrachten zu können. Deshalb ist die Aufgabe der Erforschung und Darstellung des Berliner Widerstandes mit dieser Arbeit keineswegs abgeschlossen. Im Gegenteil: Die Gedenkstätte deutscher Widerstand hat neben ihrer musealen Aufgabe den historischen Ort zu präsentieren, weiterhin die wissenschaftliche Aufgabe den Widerstand in Berlin und Deutschland zu erforschen.

Dem Autor ein großer Dank für das Werk und: Weiterhin viel Erfolg bei der Forschung.

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