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Blick in den Plenarsaal und hauptsächlich die Flaggen für Deutschland, Berlin und Europa

Festrede Examinierten-Feier der Hochschule für Wirtschaft und Recht

09.11.2012 16:00, Abgeordnetenhaus von Berlin

. Ich freue mich sehr, dass ich heute hier bei Ihnen bin. Es ist ein schöner Anlass, zu dem Sie mich eingeladen haben. Sie haben Ihr Studium erfolgreich absolviert. Sie starten nun in einen neuen Lebensabschnitt. Sie haben eine wichtige persönliche Wegmarke erreicht. Dazu möchte ich Ihnen meine herzlichen Glückwünsche aussprechen. Mit Ihrem Bachelor oder Master haben Sie alle Voraussetzungen, in eine erfolgreiche Zukunft zu gehen.

Es gibt ein Thema, das Sie alle Ihr Leben stärker begleiten wird als z. B. meine Generation: Es ist das Thema Europa. Ihre Generation wird stärker durch europäische Entwicklungen beeinflusst werden, als irgendeine Generation vor Ihnen. Europa wird Sie alle intensiv begleiten in den nächsten Jahrzehnten.

Deshalb lautet meine Bitte an Sie: Befassen Sie sich mit Europa. Und da Sie davorstehen, neu ins Berufsleben zu starten, macht es auch Sinn, diese Option von vornherein ins Auge zu fassen.

Wenn wir ehrlich sind: Wir alle sind etwas müde geworden bei dem Thema Europa. Das hat natürlich mit der aktuellen Euro-Krise zu tun. Es hat aber vor allem damit zu tun, dass wir die bittere Einsicht gewonnen haben, dass Europa Geld kostet. Seit 2008 wissen wir nun, dass Europa nicht zum Nulltarif vereint werden kann. Wir wissen aber auch, dass wir die politischen Strukturen Europas weiter demokratisieren müssen, soll Europa schlussendlich eine politische Einheit werden.

Wir müssen dem norwegischen Nobelpreis-Komitee sehr dankbar sein. Es hat uns, aber auch der restlichen Welt mit der Verleihung des Friedensnobelpreises deutlich gemacht, dass die Europäische Union mehr ist als nur eine Währungszone. Dass Europa mehr ist als nur der Euro. Dass Europa mehr ist als ein großer Markt. Europa ist Frieden, Europa ist Freiheit, Europa ist Völkerverständigung. Ja, und Europa ist die Achtung der Menschenwürde und der Respekt vor unterschiedlichen Kulturen.

Ich weiß, dass klingt für Sie wie selbstverständlich. Aber es ist mit Blick auf unsere Welt ganz und gar nicht selbstverständlich. Und auch auf unserem Kontinent sind diese europäischen Werte nicht überall die Regel. Wir sehen Demokratie nicht überall auf unserem Kontinent, wir sehen nicht immer Freiheit, wir sehen häufig keine Achtung der elementaren Menschenrechte. Ich möchte Sie zudem daran erinnern, dass es auch noch vor – geschichtlich gesehen – kurzer Zeit keine Selbstverständlichkeit war, in Frieden und Freiheit zu leben. Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts war alles andere als demokratisch, freiheitlich oder friedensliebend. Woran wir Deutschen übrigens die Hauptverantwortung trugen. Insofern sollten wir in Deutschland auch besonders dankbar sein für eine Friedensperiode, die schon über 60 Jahre anhält. Und wir sollten uns bewusst sein, dass wir eine besondere Mitverantwortung für das Wohlergehen Europas haben.

Wir dürfen nicht vergessen, dass es unsere westlichen Nachbarn und deren Staatsmänner waren, die die Deutschen wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg einluden, die europäische Einigung mitzugestalten. Und was wir ebenso nicht vergessen sollten: Auch unsere westlichen Nachbarn haben 1990 der deutschen Wiedervereinigung zugestimmt. Sie taten es, obwohl die geschichtlichen Erfahrungen mit einem starken Deutschland in der Mitte Europas alles andere als positiv waren. Unsere Nachbarn haben sich uns gegenüber absolut fair verhalten. Das gilt – das möchte ich auch betonen – in gleichem Maße für unsere polnischen Nachbarn.

Es ist eine beachtliche historisch-politische Leistung, dass sich mittlerweile 27 Mitglieder der Europäischen Union darauf verständigt haben, ein gemeinsames Wertesystem zu akzeptieren und auch zu leben. Darauf hat das Nobelpreis-Komitee mit der Preisverleihung hingewiesen. Es wäre ja auch tatsächlich merkwürdig, Europa nur unter dem Aspekt einer Währungsunion, nur unter dem Aspekt eines Zentralbanksystems, nur unter dem Aspekt eines gemeinsamen Marktes oder nur unter dem Aspekt von Gipfel-Konferenzen zu betrachten. Europa ist mehr. Europa ist die Idee einer besseren Gesellschaft in vereinigter Form, die auf Frieden, Freiheit, Demokratie und die Wahrung der Menschenrechte setzt. Beileibe nicht nur für Deutschland lautet die Zukunft ‚Europa’.

Europa ist und bleibt ein Zivilisationsprojekt, an dem kein Weg vorbeiführt. Wir werden mehr als bisher in dieses Zukunftsprojekt investieren müssen. Wir haben ja auch in unsere deutsche Wiedervereinigung investiert. Ich weiß, dass hat später so manchen Kritiker auf den Plan gerufen, so wie jetzt auch, wo es um die europäische Finanz- und Wirtschaftskrise geht. Dass Europa mit all seinen Vorzügen – gerade für uns Deutsche als Export-Weltmeister – nicht zum Nulltarif zu haben ist, dass müsste den Bürgerinnen und Bürgern ehrlicherweise viel deutlicher gesagt werden. Ich möchte es ganz offen sagen: Dieses ständige Lamentieren um die wirklichen Kosten der europäischen Vereinigung und um die Stabilisierung des Euro ist unredlich. Man kann nicht in einem Atemzug sagen, wir wollen die europäische Einheit, nur kosten darf sie nichts. Politik steht in der Pflicht, den Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes ehrlich zu sagen, welche Verpflichtungen auf uns zukommen werden, wollen wir das Europäische Haus nicht einstürzen lassen, bevor es überhaupt errichtet ist.

Schauen wir auf die europäische Gegenwart, dann erkennen wir ein Dilemma. Europa spricht nicht mit einer Stimme. Das ist besorgniserregend. Es ist vor allem deshalb ein Grund zur Sorge, weil wir in Europa an einem Scheideweg stehen. Letztlich geht es um die Frage: Bleibt Europa ein loser Staatenbund mit einem gemeinsamen Markt und jeder ist für sich selbst verantwortlich oder gehen wir den Weg einer europäischen Einigung und Parlamentarisierung weiter?

Für mich persönlich gibt es keinen Zweifel: Ein loser Staatenbund als reine markttechnische Zweckgemeinschaft würde uns im Konzert der Kontinente über kurz oder lang – eben gerade wegen der Globalisierung – ökonomisch schaden. Verharrt Europa weiterhin in der „Kleinstaaterei“, werden wir zusammen die Globalisierung wirtschaftlich nicht überstehen. Die ersten Vorboten sind längst da. Europa schwächelt wirtschaftlich, viele europäische Länder stecken in einer tiefen Rezession. Allein die Jugendarbeitslosigkeit ist alarmierend: In sieben europäischen Ländern ist sie größer als 25 Prozent, in vier Ländern erreicht sie mehr als 30 Prozent. Und in zwei Ländern ist sie sogar größer als 50 Prozent.

Es geht mir nicht darum, schwarz zu malen. Aber gerade wir Deutschen haben die historische Erfahrung gemacht, was passiert, wenn eine tiefe Wirtschaftskrise das Land erfasst. Das war am Ende der 1920er Jahre. Das Gegenprogramm der damaligen Reichsregierung unter Kanzler Heinrich Brüning lautete – sparen, sparen, sparen. All das, all die Ausgabenkürzungen, die damals verordnet wurden, hatten letztendlich die Wirtschaftkrise nur verschärft und einen Zusammenbruch der Ökonomie massiv beschleunigt.

Die aktuelle Debatte zu den verschuldeten Staatshaushalten in vielen EU-Staaten ist wichtig. Ich halte die Sparzwänge, die im Ansatz richtig sind, wo es rein um den Konsum geht, für verheerend, wenn sie nicht von Konjunkturprogrammen begleitet werden, um parallel neue Investitionen zu ermöglichen. Ohne Wachstum ist kein langfristiger Schuldenabbau möglich. Das gilt in allen Ländern gleichermaßen. Da ist auch Griechenland keine Ausnahme.

Was zur Zeit passiert, ist hoch gefährlich. Not zerstört Demokratie und Hunger gefährdet die gesellschaftliche Stabilität. In vielen Ländern nimmt der Protest gegen die jeweiligen demokratischen Regierungen gewaltig zu. Wichtig scheint mir zu sein, dass es endlich einen Wachstums- und Beschäftigungspakt für die Krisen-Länder gibt, der auch umgesetzt wird. Aber das ist leichter gefordert als umgesetzt. Alles und Jedes muss abgestimmt werden im Europäischen Rat. Hinzu kommt dann noch, dass alle aus ihrer nationalen Souveränität heraus agieren, aber eben nicht als Einheit. Vielfach haben Ressentiments und persönliche Eitelkeiten mehr Gewicht als politische Vernunft.

Es ist genau dies der Punkt: Bleiben wir auf der Ebene der Europäischen Union als loser Staatenbund stehen, bleibt die Assoziation mit Brüssel lediglich Bürokratie, und bleibt das Europäische Parlament nur ein „Semi-Parlament“ ohne wirkliche Befugnisse, dann ist die Idee vom Vereinten Europa gefährdet. Dann war der Hinweis des Nobelpreis-Komitees ein netter Fingerzeig, aber eben kein zukunftsweisender. Es liegt in unserer Hand, wie wir unser Verhältnis zu Europa ausgestalten. Diese Entscheidung wird auch bald fallen müssen.

Ich möchte gerne in diesem Zusammenhang einen Denkanstoß geben. Wir leben hier in Deutschland in einem Bundesstaat mit föderalem Aufbau. Über die einzelnen Bundesländer werden die regionalen Erfordernisse und auch Besonderheiten in den politischen Prozess implantiert. Bayern ist eben nicht Niedersachsen, Baden-Württemberg eben nicht Mecklenburg-Vorpommern. Und auch Hamburg ist nicht gleich Berlin. Was ich sagen möchte: Wir leben in Deutschland längst die Unterschiedlichkeit, sehen aber gleichzeitig die Notwendigkeit zum Ausgleich auf der übergeordneten nationalen Ebene. Dafür haben wir den Bundestag und den Bundesrat. Alles demokratisch legitimert.

Mir stellt sich schon die Frage, was eigentlich dagegen spricht, dass wir ähnlich föderal in einer Europäischen Gemeinschaft zusammenleben. Es muss ja am Ende nicht das Modell „Bundesrepublik Deutschland“ herauskommen. Aber es ist ein Modell, dass auch übernational Anwendung finden könnte, ohne dass sich die beteiligten Länder mit ihren spezifischen Eigenheiten deshalb gleich gänzlich aufgeben müssten. Es gibt meines Erachtens sehr wohl die Möglichkeit, ein föderales Europa zu bauen.

Was wir dann allerdings bräuchten, ist ein Europäisches Parlament mit vollen Parlamentsrechten. Und wir bräuchten ebenso eine Europäische Regierung, damit wir nach außen geschlossen auftreten können.

Es sind noch Visionen – ohne Frage. Doch können wir wirklich in den gegenwärtigen Bezügen verharren? Die Gegenwart lehrt uns, dass es eigentlich nicht gut ist alles so zu belassen, wie es ist. Weder für die einzelnen Mitgliedsländer noch für die Europäische Gemeinschaft selbst. Und auch mit Bezug auf die europäische Einigung gilt der Satz, der immer gültig ist: Nur wer weiß, wo er hinmöchte, wird dort auch letztlich ankommen.

Ich möchte zum Ende den Historiker Paul Nolte zitieren, der ja hier in Berlin an der Freien Universität lehrt und forscht. Er schrieb in dem Debattenmagazin ‚Berliner Republik’: „Mehr politische Integration, mehr Demokratie in Europa brauchen wir nicht als letzten Rettungsanker angesichts einer kapitalistisch zerfressenen nationalen Demokratie, sondern weil Demokratie, von der Bürgerinitiative und dem Internet-Blog angefangen, tiefer, vielfältiger und anspruchsvoller geworden ist und die europäischen Verhältnisse davor nicht Halt machen können. Mehr Demokratie in Europa brauchen wir nicht zuerst wegen der Krise, sondern weil die Menschen und Völker Europas aufeinander zugegangen sind: Weil wir kulturell und lebensalltäglich zusammengewachsen sind“.

Dieser Beobachtung ist von mir nichts hinzuzufügen.

Glauben Sie mir: Die Fragen um Europa werden Ihr zukünftiges Leben beeinflussen. Da können Sie sicher sein. Und es wird auch Ihr berufliches Leben betreffen. Ganz gleich, in welcher Verwaltung Sie arbeiten, ganz gleich, in welchem Unternehmen Sie tätig sind: die europäische Dimension werden Sie in Ihrer Arbeit wiederfinden. Bei dem Einen mehr, bei dem Anderen weniger. Bleiben Sie bitte an dem Thema dran: Die Europäisierung aller unserer Lebensbereiche wird zunehmen. Werden Sie in Ihren jeweiligen künftigen Arbeitsgebieten zu Experten, die sich mit Europa auskennen. Denn Europa wird unser aller Zukunft.

Ich denke, Sie können sehr stolz auf sich sein. Sie haben Ihr Examen an der Hochschule für Wirtschaft und Recht erfolgreich bestanden. Im Rahmen Ihrer Ausbildung, im Rahmen Ihres Studiums haben Sie das Rüstzeug erhalten, um die europäische Herausforderung in Ihren jeweiligen Berufen zu meistern. Bauen Sie mit am ‚Europäischen Haus’. Es lohnt sich.

Vielen Dank.