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Blick in den Plenarsaal und hauptsächlich die Flaggen für Deutschland, Berlin und Europa

Gedenkrede des Präsidenten des Abgeordnetenhauses von Berlin Dennis Buchner für die gefallenen jüdischen Soldaten im Ersten Weltkrieg

13.11.2022 08:35, Jüdischer Friedhof, Weißensee

Es ist mir eine große Ehre, heute - zum diesjährigen Volkstrauertag - die Gedenkrede für die gefallenen jüdischen Soldaten des Ersten Weltkrieges halten zu dürfen. Wer mich bzw. meine Vita kennt, der weiß, dass ich Weißensee ganz besonders verbunden bin und auch den Jüdischen Friedhof Weißensee bereits sehr lange begleite. Dieser Friedhof ist für mich immer wieder zutiefst beeindruckend. Nicht nur, weil er der flächenmäßig größte erhaltene jüdische Friedhof in ganz Europa ist und seit den 1970er-Jahre unter Denkmalschutz steht. Nein, er erzählt auch viel über das jüdische Leben in Berlin und auch die wechselhafte Geschichte der Jüdinnen und Juden in Berlin.

Wir alle wissen um diese bewegte Historie, um das große Leid, das wir Deutsche den Jüdinnen und Juden angetan haben - zu Zeiten des Nationalsozialismus, aber auch bereits in den Jahrzehnten und Jahrhunderten davor. Und um uns ehrlich zu machen: Auch heute - mehr als 77 Jahre nach dem Sieg über den Nationalsozialismus -  gibt es immer noch viele - zu viele - Deutsche, die offen antisemitisch auftreten oder antisemitische Narrative bedienen. Wir müssen daher immer wieder die Erinnerung an unsere Vergangenheit aufrechterhalten, so wie wir es auch an dieser Stelle heute tun. „Nie wieder“ darf keine leere Floskel sein - wir müssen uns immer und überall Antisemitismus, Hass, Hetze und Gewalt entgegenstellen und gegen die zunehmenden rechten Tendenzen in unserer Gesellschaft vorgehen. Und das an jedem einzelnen Tag.

Das Leben der Jüdinnen und Juden in Deutschland war immer auch ein Leben, in dem es um Emanzipation ging, um Gleichstellung, um Anerkennung. Im Zuge der Industrialisierung am Ende des 19. Jahrhunderts übernahmen jüdische Bürger wichtige Funktionen im gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben des Kaiserreichs. Sie wähnten sich angekommen in der deutschen Gesellschaft. Denn sie leisteten einen enormen Beitrag zum wirtschaftlichen Aufstieg Deutschlands. Soziale Integration und kulturelle Anpassung – so schien es – waren der Garant dafür, dass die Assimilation der jüdischen Menschen voranschritt. Natürlich war der Antisemitismus gerade auch im Kaiserreich ständig präsent – und doch hatten viele der jüdischen Familien die inneren und äußeren Werte der Deutschen angenommen. Der Grad der Identifikation mit der deutschen Kultur wuchs äußerlich rasant an, während das Jüdische im privaten Rahmen blieb. Und so kann es auch nicht verwundern, dass der deutsche Hurra-Patriotismus auch vor den jüdischen Haushalten in Deutschland nicht Halt machte.

Auch Juden zogen daher 1914 begeistert in den Krieg, der sich zu einem Weltkrieg auswuchs. „Liebt nächst Gott das Vaterland!“ lautete der Aufruf, den deutsche Rabbiner mit Kriegsbeginn 1914 in ihren Gemeinden publik machten und in der Tat unterschied sich die Euphorie, mit der sich junge Männer freiwillig zum Dienst meldeten, kaum von der in der deutschen Mehrheitsgesellschaft anzutreffenden Kriegsbegeisterung. Knapp 100.000 Juden kämpften zwischen 1914 und 1918 für die deutsche Armee, davon rund 77.000 direkt an der Front. 12.000 von ihnen bezahlten diesen Einsatz mit dem Leben. Anders als bei früheren Militäreinsätzen wurden jüdische Leistungen im deutschen Militär dieses Mal allerdings honoriert. Mehr als 20.000 Soldaten erhielten Beförderungen und 30.000 wurden mit Auszeichnungen geehrt.

Doch selbst in diesem Krieg wurden von offizieller deutscher Seite antisemitische Ressentiments gefördert, die eindeutig diskriminierend waren. Besonders die Judenzählung im deutschen Militär von 1916 gehörte dazu, verfügt vom Kriegsminister Adolf Wild von Hohenborn. Damit sollte überprüft werden, ob jüdische Soldaten wehrkraftzersetzend agierten. Aus heutiger Sicht kann man wohl nur sagen: Die Suche nach den Schuldigen für die drohende militärische Niederlage begann bereits im Krieg. Auch wenn die Ergebnisse nie veröffentlicht wurden – ein Stigma, das später in Weimarer Zeiten immer wieder bedient wurde, war entstanden.

Die Teilnahme der jüdischen Soldaten am Ersten Weltkrieg führte nicht zur tieferen Inklusion jüdischer Menschen in die deutsche Gesellschaft. In dem Jahrzehnt zwischen 1920 und 1930 konnten sich zwar Jüdinnen und Juden so gut in die Berliner Gesellschaft integrieren wie kaum jemals zuvor. Es herrschte Offenheit den Juden gegenüber. Aber unter der Oberfläche brodelte der verordnete Antisemitismus weiter und entlud sich in der nationalsozialistischen Rassenlehre, die ab 1933 nicht mehr hinterfragte Staatsdoktrin wurde.

Ich könnte jetzt sagen, alles das blieb den gefallenen jüdischen Soldaten des Ersten Weltkriegs, die wir heute ehren, erspart. Doch diese Menschen haben für ihr Land gekämpft, im Glauben dazu zu gehören. Und sie sind gestorben für ihr Land. Ein Land, was ihre Familien, Freundinnen und Freunde, Bekannte, Nachfahrinnen und Nachfahren nur wenige Jahre später systematisch auszulöschen versuchte. Mit diesem Wissen müssen wir umgehen. Und vor allem: Es sollte uns eine Mahnung sein.

In Demut verneige ich mich daher vor den toten jüdischen Soldaten des Ersten Weltkriegs, die hier auf dem Jüdischen Friedhof in Weißensee ihre letzte Ruhe gefunden haben.