
Gedenkworte der Präsidentin des Abgeordnetenhauses von Berlin, Cornelia Seibeld, anlässlich des 80. Jahrestages der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz und des Gedenktages an die Opfer des Nationalsozialismus
30.01.2025 10:00, Abgeordnetenhaus, Plenarsaal
Heute vor 92 Jahren wurde Adolf Hitler zum Reichskanzler durch den Reichspräsidenten Paul von Hindenburg ernannt. Die dunkelste Zeit der deutschen Geschichte nahm damit ihren Anfang. Die nächsten schrecklichen Etappen zur Abschaffung der Demokratie und des Rechtsstaats folgten noch im ersten Quartal 1933. Es waren die Reichstagsbrandverordnung und das Ermächtigungsgesetz. Von Anfang an waren SA– und SS-Terror, Verhaftungen von politischen Gegnern sowie die Ausgrenzung und Verfolgung von Jüdinnen und Juden Teil der politischen Agenda des NS-Regimes. Die Inkarnation des Unrechts, der Willkür und der Menschenverachtung sind zweifelsohne die Konzentrationslager gewesen. Diese Lager wurden zu einem konstitutiven Element des Nationalsozialismus. Sie sollten jedwede Form von Opposition gewaltsam unterdrücken. Und sie dienten zur Absonderung all derer, denen die NS-Ideologie das bloße Existenzrecht absprach wie Juden, Sinti und Roma, Homosexuellen und vermeintlich Asozialen sowie viele andere.
Das alles geschah nicht im Verborgenen. So befand sich beispielsweise in unmittelbarer Nähe zur damaligen Reichshauptstadt Berlin als Modell- und Schulungslager das KZ Sachsenhausen. Nach seiner Errichtung 1936 nahm es eine besondere Stellung ein. Während des Zweiten Weltkrieges wurden seine Häftlinge an vielen Orten innerhalb Berlins in dutzenden Außenkommandos und Außenlagern eingesetzt. Die Zwangsarbeit zehntausender Häftlinge in kriegswichtigen Betrieben und die Trümmerbeseitigung nach Luftangriffen waren für alle öffentlich sichtbar. Eine weitere, noch schrecklichere Dimension verbindet sich mit dem Namen des KZ Auschwitz, dem Ort, der am 27. Januar 1945, also vor genau 80 Jahren befreit wurde. Auschwitz ist das Synonym des industriell durchgeführten Massenmordes der Nationalsozialisten. An Jüdinnen und Juden sowie an vielen weiteren Verfolgten. Auschwitz ist Ausdruck des unfassbaren Rassenwahns der Nationalsozialisten.
Die Ereignisse und Verbrechen, derer wir in dieser Woche gedenken, dürfen nicht nur Vergangenheitsbewältigung auslösen. Vor allem müssen sie uns auch zur kritischen Prüfung aktueller Vorgänge in unserer Stadt verpflichten. Antisemitismus war in Deutschland und in Berlin nach 1945 bis zum heutigen Tage nie ganz überwunden. Vorurteile, Verschwörungsmythen und Gewaltangriffe lebten fort. Seit dem 7. Oktober 2023, seit dem Massaker der Hamas und der israelischen Antwort darauf, hat sich der Antisemitismus im Alltag dieser Stadt allerdings explosionsartig verbreitet. Dabei sind mehrere Hochschulen in Berlin zu Schwerpunkten antisemitischer Aktivitäten geworden. Dazu gehören individuelle Beleidigungen und Bedrohungen bis hin zu Attacken, bei denen jüdische Studierende von Kommilitonen krankenhausreif geprügelt wurden.
Jüdinnen und Juden wagen es nicht mehr Ihre akademischen Bildungsstätten aufzusuchen oder auf dem Campus offen jüdische Symbole zu tragen. Insbesondere die Mitglieder und Sympathisanten islamistischer Organisationen wie Hamas, Hisbollah und des Islamischen Dschihad haben an allen Berliner Hochschulen, insbesondere aber an der Humboldt-Universität, der Freien Universität und der Alice Salomon-Hochschule Hörsäle und Verwaltungsbüros besetzt. Sie hinterließen erhebliche Zerstörungen, bedrohten die Mitarbeiter, beschmierten Gänge und Räume mit antisemitischen und antiisraelischen Symbolen und gaben ihrem Willen zur Auslöschung Israels und seiner Einwohner Ausdruck. Zur allgemeinen Verunsicherung trugen Hochschulpräsidentinnen bei, die entweder antisemitische Inhalte in sozialen Medien likten oder die Polizei zur eigentlichen Bedrohung erklärten.
Der Deutsche Bundestag hat gestern einen Antrag der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und der FDP verabschiedet, indem konkrete Maßnahmen gegen Antisemitismus und Israelfeindlichkeit an Schulen und Hochschulen vorgesehen werden. Im Rahmen unserer Gedenkstunde zum 85. Jahrestag der Reichspogromnacht vom 9. November 1938 hat Professor Michael Wolffsohn darauf hingewiesen, dass Bildung weder vor Torheit noch Antisemitismus noch Unmenschlichkeit schützt. Zitat: „Die Mehrheit der deutschen Professoren gehörte 1933 zu den ersten Märzgefallenen, also denen, die sich schnellstens mit dem NS-Staat identifizierten und solidarisierten.“ Gerade deshalb täte eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Taten der Nationalsozialisten, und erst recht mit dem gelebten Antisemitismus heutzutage an den Universitäten Not.
Aber statt sich einer solchen Auseinandersetzung zu stellen, hat das Universitätspräsidium der Freien Universität es abgelehnt, die Ausstellung „The Vicious Circle“ in ihren Räumlichkeiten zu zeigen. In der Wanderausstellung, die das National Holocaust Museum in England dem Historischen Institut der FU angeboten hatte, wird an fünf Pogrome in Europa und dem Nahen Osten gegen Juden zwischen 1938 und 2023 erinnert. Neben technischen und organisatorischen Gründen für die Ablehnung hat sich die FU laut Presseberichterstattung auf den Standpunkt gestellt, dass eine solche Ausstellung unter Umständen als Relativierung der Schoah interpretiert werden könne. Mich befremdet diese Schlussfolgerung sehr. Wie spätestens seit der letzten documenta in Kassel bekannt sein sollte, ist Antisemitismus nicht nur ein deutsches Phänomen. Dessen Erscheinungsformen und Verbreitungsgeschichte klärt man gewiss nicht durch Verschweigen auf. Bei mir entsteht der Eindruck, als ginge die FU dem Kampf gegen den Antisemitismus auch in den Reihen der Studierenden lieber aus dem Wege, als sich mit der Situation auseinander zu setzen.
Ich habe mich deshalb entschlossen und mich dazu auch mit unserem Präsidium des Abgeordnetenhauses abgestimmt, die Ausstellung „The Vicious Circle“ in Kooperation mit dem Haus der Wannseekonferenz sowie der israelischen Botschaft hier im Abgeordnetenhaus zu zeigen.
Wo wenn nicht hier, in der Herzkammer der Demokratie der Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland, dem Abgeordnetenhaus von Berlin, muss eine Ausstellung über die abscheulichen Verbrechen an den Jüdinnen und Juden einen Platz haben?
Und ich bin mir sicher: Weder die ausgewiesenen Experten des Erinnerungsortes, dem Haus der Wannseekonferenz an dem die Durchführung des industriellen Massenmordes geplant wurde, noch die israelische Botschaft sind verdächtig, eine Relativierung der Schoah vornehmen zu wollen. In den Tagen rund um die Plenarsitzung am 27. Februar 2025 werden wir daher als Abgeordnetenhaus ein Ort der Information und Aufklärung sein, der die Freie Universität Berlin leider nicht sein wollte.
In diesen Tagen haben wir dankenswerterweise erlebt, dass es großen Teilen unserer Gesellschaft nach wie vor wichtig ist, die Erinnerung an den Holocaust und seine Wegbereitung lebendig zu halten. Wir erleben auch, dass viele Menschen jeder Form des Antisemitismus aktiv entgegentreten. Das gilt für Bürgerinitiativen, Einzelpersonen und Schulen, die sich für die Bewahrung des Andenkens einsetzen. Aber auch für die Polizisten und Sicherheitskräfte, die Jüdinnen und Juden schützen. Ich bin aber überzeugt, dass es unser aller Aufgabe ist, hier in der Herzkammer der Demokratie, aber auch in den Wahlkreisen, in allen Berliner Kiezen. Die Erinnerung wach zu halten, Verantwortung wahr zu nehmen. #niewiederistjetzt müssen mehr als Worte sein. Die Bedeutung erschöpft sich nicht in der permanenten Wiederholung, sondern erfordert von jeder und jedem von uns Taten.