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Grußwort der Präsidentin des Abgeordnetenhauses von Berlin Cornelia Seibeld zur Gedenkveranstaltung Jom Haschoa

06.05.2024 19:00, Jüdisches Gemeindehaus

Heute vor 81 Jahren dauerte er immer noch an: Der bewaffnete Kampf gegen die endgültige Deportation der letzten Bewohner des Warschauer Ghettos. Es war ein aussichtsloser Kampf, eine Tragödie. Es ging nicht um einen Sieg. Es ging um die Art des Sterbens. Aufrecht, mit der Waffe in der Hand. Statt in den Gaskammern von Treblinka.

Die Verfolgung der Juden, überall wo deutsche Regierungsgewalt und deutsche Soldaten herrschten, hatte ganz unterschiedliche Erscheinungsformen. Jedoch zielte das nationalsozialistische Regime immer darauf ab, den Menschen Ihre Würde zu nehmen. Erst, indem man ihnen ihre Rechte nahm und sie zu bloßen Objekten der Drangsalierung machte. Später, indem man sie zum Tragen des sogenannten Judensterns zwang. Und mit den militärischen Eroberungen folgte das Einpferchen in völlig überfüllte Ghettos. Die systematischen Massenerschießungen durch die Einsatzgruppen setzten fast zeitgleich ein und alles mündete nach der Berliner Wannseekonferenz in den Vernichtungslagern.

Die historischen Daten können den Horror des Warschauer Ghettos nicht ausdrücken: Im November 1940 waren auf etwas mehr als drei Quadratkilometern über 450.000 Menschen zusammen gezwungen worden. Eine drei Meter hohe Mauer, 18 Kilometer lang, trennte das Ghetto vom Rest der Stadt. Das tägliche Leben war extrem beengt, bestimmt von Überwachung und Terror, von Hunger und Epidemien. Die Lebensbedingungen waren katastrophal.  Rund 80.000 Menschen sollen an den Folgen der unerträglichen Lebensbedingungen bis Mitte 1942 verstorben sein. Die Situation der Menschen, ihr unendliches Leid, ist mit Worten kaum zu beschreiben.

Und doch kam es von Juli bis September 1942 zu einer weiteren Steigerung der beabsichtigten Menschenvernichtung. Mehr als 250.000 Menschen wurden in das Lager Treblinka deportiert, um dort in den Gaskammern ermordet zu werden.

Die Verbliebenen, überwiegend junge Menschen, die ihre Familien bereits verloren hatten, waren komplett desillusioniert. Ihnen war klar, dass auch sie dem Tod nicht entrinnen würden. Nun widmeten sie sich dem Aufbau des Widerstandes. Auf Initiative mehrerer zionistischer Jugendbewegungen, denen sich fast alle anderen Organisationen anschlossen, wurde die „Jüdische Kampf-Organisation“ gegründet. Der Kommandant war gerade einmal 23 Jahre alt.

Mühsam gelangte man durch Kontakte zur Polnischen Heimatarmee in den Besitz einiger weniger Waffen, hauptsächlich Pistolen und Sprengstoff. Und es geschah das Unerwartete. Als am 18. Januar 1943 die Deutschen versuchten, eine weitere Deportation durchzuführen, leistete die Jüdische Kampf-Organisation bewaffneten Widerstand. Weil die NS-Besatzer vom Widerstand der jüdischen Bevölkerung überrascht waren, brachen sie die Räumung des Ghettos ab.

Das ermutigte viele Juden im Ghetto dazu, sich dem Widerstand anzuschließen. Sie bastelten mit einfachsten Mitteln vor allem Spreng- und Brandsätze und bauten Bunker und Verstecke. Am 19. April 1943, am Vorabend des Pessach-Festes, begann der letzte Akt, die endgültige Liquidierung des Ghettos und der in ihm lebenden Menschen.

Und die SS wurde mit dem größten bewaffneten jüdischen Widerstandsakt während der Nazi-Besatzung Europas konfrontiert. Das Kräfteverhältnis der Gegner konnte ungleicher nicht sein. Auf jüdischer Seite schlecht bewaffnete, hungrige, ausgemergelte Kämpfer – auf Deutscher Seite Soldaten in voller Kriegsausrüstung und zahlenmäßig weit überlegen. Trotzdem erzielten die jüdischen Kämpfer anfangs Erfolge.

Um es mit den Worten von Marek Edelman, einem der wenigen überlebenden Anführer des Aufstands auszudrücken:

„Die Soldaten hatten Angst, dass sie von uns getroffen, erschossen werden. Also flüchteten sie. Die Straße gehörte uns. Das war eine große Genugtuung.“

Dieser Zustand konnte nicht lange anhalten. Nach fünf Tagen des Kampfes begannen die SS- und Polizeieinheiten, die Häuser des Ghettos systematisch niederzubrennen und verwandelten es in eine Feuerfalle.

Als am 16. Mai als letztem Akt die große Synagoge gesprengt wurde, waren weitere zehntausende Menschen getötet oder in Vernichtungslager transportiert worden. Wie anders als heldenhaft können wir den Widerstand bezeichnen? In aussichtsloser Situation einen letzten Rest an Selbstbestimmung sich zu erhalten und den Kampf rund einen Monat durchzuhalten. Nicht als Opfer sich zu ergeben, sondern Vorbild zu sein für andere wehrhafte Juden.

Der heutige Tag darf aber nicht nur der Erinnerung dienen. Er muss vielmehr auch Mahnung mit Blick in Gegenwart und Zukunft sein. Denn insbesondere nach dem 07. Oktober 2023 haben wir in Berlin, in Deutschland, Europa und der ganzen Welt den Antisemitismus neu aufflammen sehen. Überall brechen sich Hass und Gewalt gegen Juden Bahn.

Es ist die aus der Geschichte erwachsene besondere Verantwortung Deutschlands, für die Sicherheit der Jüdinnen und Juden in Deutschland – aber auch für die Sicherheit und Existenz Israels – einzustehen.

Nie wieder ist jetzt. Ich bedanke mich für Ihr Aufmerksamkeit.