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Blick in den Plenarsaal und hauptsächlich die Flaggen für Deutschland, Berlin und Europa

Grußwort des Präsidenten des Abgeordnetenhauses von Berlin Ralf Wieland zur 25-Jahr-Feier "Raum der Stille"

29.10.2019 17:30

Es gibt ja die Ansicht, die Stille in uns selbst sei immer da, selbst wenn es viele Geräusche um uns herum gibt. Wäre es so – bräuchten wir dann Räume der Stille?

Dass wir die Räume der Stille brauchen, steht für mich außer Frage. Wir brauchen diese Räume, weil wir vom Lärm geplagt werden, zumal in einer Stadt wie Berlin, die irgendwie nie zur Ruhe kommt. Auch dafür gibt es eine Erklärung. Denn Lärm, den wir selbst erzeugen oder der um uns herum entsteht, lenkt uns ab. Der Raum zur Selbstreflexion reduziert sich so auf ein Minimum. Probleme, Ängste werden unterdrückt und die Beschäftigung mit sich selbst lässt sich so vermeiden.

Das mag auch eine Zeit lang gut gehen, doch macht Lärm auf Dauer krank, wie wir wissen. Zudem führt diese Ablenkung dazu, dass wir an unserem wahren Selbst vorbeileben und eventuell eines Tages in Reue zurückblicken. Und deshalb lässt sich sagen: Der Weg zu einem gesunden, erfüllten und glücklichen Leben geht auf Dauer nur über die Stille. Leider kennt und erkennt der Mensch kaum noch die Notwendigkeit von Ruhepolen. Vielleicht sehnt er sich sogar danach, ohne diesem tiefen Bedürfnis nachzugehen. Denn Stillhalten will gekonnt sein. Und Stille will erobert werden. Oft beschleicht uns ein diffuses Gefühl, wenn sich Momente einstellen, in denen wir ohne Ablenkung sind. Das Gefühl von Langeweile macht sich breit, die Suche nach Beschäftigung beginnt.

Die Ruhe, die Stille als Glück zu empfinden, fällt uns schwer. Die Welt in der wir leben, hat uns etwas Ängstliches, vielleicht sogar etwas Bedrohliches vermittelt, wenn sich inhaltliche Leere und Nichtstun andeuten. Unsere Ambivalenz gegenüber der Stille hat also etwas mit unserer gegenwärtigen Lebenslage zu tun. Wir sind frei und autonom wie noch nie zuvor, aber auch entwurzelt, isoliert, einsam und im inneren Widerspruch mit uns selbst. Uns fehlt es an Bindung und Verbindung.

Wir werden immer mehr zu Einzelkämpfern, leben in einer virtuellen Scheinwelt, die eine größere Bedeutung als das Sein. Wenn wir bewusst im Außen Stille produzieren, wird es in unserem Kopf meist total laut. Da hören wir erst einmal, was wirklich in uns los ist. Doch auch dieser Lärm in unserem Kopf behindert, dass wir Wesentliches in uns erkennen. Wir sind so beschäftigt mit inneren Gesprächen, was wir noch zu erledigen haben, was gestern war, was wir dringend mal tun sollten, wem wir nicht verzeihen können und das ein und andere, was wir gerne für uns machen würden, aber nicht tun können, wollen, dürfen.

Wir kommen nicht zum Kern, zum Wesentlichen der inneren Stille. Die Frage ist also erlaubt: Was fasziniert uns also am Lärm? Ganz einfach: Lärm ist Ablenkung.  Denn würden wir zum Nachdenken kommen, würden viele Menschen merken, dass sie in Wahrheit mit ihrem Leben alles andere als glücklich sind. Dass sie vielleicht an ihren eigentlichen Träumen, Wünschen und Werten vorbeileben. Ihre grundlegenden Bedürfnisse zurückstellen oder sich vollkommen verloren fühlen. Dass sie vielleicht Angst spüren, Schmerz und Trauer. All diese unangenehmen Emotionen sowie Gedanken lassen sich durch ständige Aktivität verdrängen – durch einen übertriebenen Aktionismus beispielsweise oder eben andauernden Lärm. Absolute Ruhe ist heutzutage gerade deshalb so wichtig, weil sie zu einem seltenen Gut geworden ist. Stille bedeutet Urlaub für das Gehirn und damit auch für unseren Körper. Nur durch regelmäßige Ruhepausen können wir unsere Ressourcen wieder aufladen, uns vom anstrengenden Alltag erholen, um so wieder zu uns selbst zu finden. Und deshalb kann es nur eine Forderung geben: Stille sollte ein fester Bestandteil unseres Lebens werden.

Somit wird Stille zu einem Politikum – bezogen auf unsere Gesundheit, aber auch in Bezug auf die Umwelt, der wir immer mehr zusetzen. Aber hinter dem Wunsch nach Stille verbirgt sich auch eine soziale Problematik. Ich finde der Umwelthistoriker Frank Uekötter hat das sehr klar umschrieben.

So schrieb er: „Das Entscheidende ist die Möglichkeit, sich zurückzuziehen aus Gegenden des Lärms. Das kann man eben, indem man in die suburbane Stadt emigriert; und das kann man, indem man sich eine Wohnung in der Nebenstraße oder eine Wohnung eben weit oben im Gebäude mietet oder kauft. Das kann man nicht, wenn man ein kleines Einkommen hat. Dann muss man eben auch die kleine Wohnung an der lärmigen Straße nehmen und versuchen, irgendwie damit zu leben. Das ist ein Teil von sozialer Ungleichheit, der bis heute nicht aus unserer Welt verschwunden ist.“

Angesichts des Wohnungsmangels in unserer Stadt wird es auch zunächst so bleiben. Wer es sich leisten kann, zieht in eine ruhigere Gegend oder an den Stadtrand. Die anderen müssen weiter mit der Lärmbelastung dauerhaft leben. Eine Lösung werden mittelfristig neue Antriebsarten der Motoren sein. Die Vorstellung, in Berlin und anderswo würden überwiegend nur noch Elektro- oder Wasserstoffautos fahren, wird die Lärmkulisse erheblich reduzieren. Insofern haben die Umwelt- und Klimapolitik sehr viel auch mit dem Aspekt von Ruhe und Stille zu tun. Die Lärmreduktion in der Umwelt wirkt sich unmittelbar auf unser Wohlbefinden aus und wird uns wieder mehr zur Selbstreflexion animieren. Doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Ein weiter Weg liegt auch hinter uns, wenn wir an unser Nationalsymbol Brandenburger Tor denken. Es ist ja auch der Ort für den Raum der Stille, dessen 25-jährige Existenz wir heute feiern.

Seit nunmehr dreißig Jahren ist das Brandenburger Tor offen und zieht die Menschen von Nah und Fern an. Wir haben es als Stadt immerhin geschafft, den Autoverkehr durch das Tor selbst zu stoppen. Aber um das Tor herum bleibt es laut. Und deshalb liegt der Raum der Stille dort richtig. Mitten in Berlin, mitten im Herzen der Hauptstadt. Ein Ort zur inneren Einkehr, zum Meditieren oder zum Beten. Ein Ort des Friedens.

Meine Damen und Herren, das Brandenburger Tor steht einerseits für die deutsche Einheit, steht für Freude. Es regt aber andererseits auch als historisches Bauwerk zum Nachdenken an. Zum Nachdenken über die preußische und deutsche Geschichte, zum Nachdenken über die Bedeutung freier und unfreier Gesellschaften. Wir feiern in ein paar Tagen die Maueröffnung vor dreißig Jahren. Jubel und Freude herrschten damals am Brandenburger Tor. Es war laut, sehr laut. Die Freude über das Ende der deutschen Teilung war überbordend. Doch was ist aus dieser Freude geworden? Ich möchte gar nicht die innerdeutsche Entwicklung schlecht reden.

Doch ich möchte sagen: Das Zusammenleben von Menschen aus völlig unterschiedlichen Gesellschaftssystemen ergab und ergibt sich nicht von selbst. Von der einstigen Freude ist Ernüchterung zurück geblieben, bei nicht wenigen Menschen sogar Enttäuschung. Das ist für mich nachvollziehbar. Wenn die Regeln eines Alltages, die für lange Zeit galten, plötzlich keine Bedeutung mehr haben, dann kann es zu emotionalen Verwerfungen kommen.

Das ist normal. Und Prägungen lassen sich nicht einfach abstreifen. Ja, und es kann sogar zur Ablehnung der neuen Regeln führen. Auch das ist vielleicht noch normal. Was aber nicht normal ist, ist das Bedürfnis vieler Betroffener, sich abzugrenzen und andere Menschen auszugrenzen. Das ist keine Prägung. Das ist eine falsche politische Überzeugung. Sie hat in Deutschland nach der Erfahrung zweier Diktaturen einfach keinen Platz mehr. Auch im Raum der Stille am Brandenburger Tor kann jede Besucherin,  kann jeder Besucher spüren: Hier ist ein Ort, von zwei Diktaturen vereinnahmt, doch nie zum Glück der Menschen, die in diesen Diktaturen leben mussten. Es ist lohnend, im Stillen darüber nachzudenken, welchen Wert die heutige Freiheit hat – für den Einzelnen, für uns alle.

Wie schrieb ein junger Mann in Ihr Besucherbuch: „Denn hat man die Ruhe nicht, verflüchtigt sich das eigene Licht.“

Eine wunderbare Einsicht. Vielen Dank dafür. Und vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.