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Blick in den Plenarsaal und hauptsächlich die Flaggen für Deutschland, Berlin und Europa

Grußwort des Präsidenten des Abgeordnetenhauses von Berlin, Walter Momper, anlässlich des Festvortrags beim Ernst-Reuter-Archiv

11.07.2011 18:00, Rotes Rathaus

Walter Momper 11.07.2011, Rotes Rathaus, Wappensaal

-Es gilt das gesprochene Wort-

Das Leben von Ernst Reuter, dem Namensgeber dieser Stiftung war facettenreich, gekennzeichnet durch eine Reihe von Brüchen und folgte keinem vorgegebenen Weg.

Als der junge Ernst Reuter im Jahre 1913 als Hauslehrer in Bielefeld tätig war, verlor er seine Stellung, nur weil sein Arbeitgeber bemerkt hatte, dass Ernst Reuter Sozialdemokrat war. Der Ex-Hauslehrer ging nach Berlin und mochte die Stadt nicht. Der junge Mann beschrieb die Stadt Berlin so: „Staub und entsetzlich viele Menschen, die alle rennen, als ob sie die Minute 10 Mark koste“ „Ernst Reuter. Sein Leben in Bildern 1889 bis 1953“, 1989 FAB Verlag

Diesen Satz könnte man heute über Berlin natürlich nicht mehr sagen. Denn heute rechnen wir schließlich in Euro, allen aktuellen Unkenrufen zum Trotz.

Als engagierter Pazifist kämpfte Ernst Reuter zu Beginn des Ersten Weltkriegs gegen Nationalismus und Krieg. Er verfasste eine Denkschrift, in der er die Vorkriegsdiplomatie kritisierte und Anstoß im Auswärtigen Amt erregte.

Des stumpfsinnigen Drills in der heimatlichen Kaserne überdrüssig, meldete sich Ernst Reuter 1916 freiwillig zur Front und erlebte dort den mörderischen Stellungskrieg an der Westfront. Er wurde später an der Ostfront schwer verwundet und geriet in russische Kriegsgefangenschaft.

Ernst Reuter lernte die russische Sprache und wurde zum Vertreter der Gefangenen gewählt. Nach der Oktoberrevolution machten ihn die Sowjets zum Volkskommissar der deutschen Siedler an der Wolga. Am Gründungsparteitag der KPD zum Jahreswechsel 1918/1919 im ehemaligen Preußischen Landtag nahm er als Gastvertreter der Komintern teil.

Nach der Rückkehr in die Heimat schloss sich Ernst Reuter der KPD an, er wurde rasch Erster Sekretär der Berliner Parteiorganisation und 1921 zum Generalsekretär der KPD gewählt. Von Anfang an kritisierte er den Einfluss der Komintern auf die KPD. Zudem kritisierte er den Putschismus der KPD 1919. Der Konflikt eskalierte rasch und schon im folgenden Jahr schloss ihn die Partei aus. Noch im selben Jahr kehrte er wieder in die SPD zurück.

In den Jahren danach reifte bei Ernst Reuter die Erkenntnis, dass Deutschland nur als demokratischer Staat gesellschaftliche Veränderungen herbeiführen könne. Als Stadtrat für das Berliner Verkehrswesen erkannte er Mitte der Zwanziger Jahre die Notwendigkeit des Ausbaus des öffentlichen Personennahverkehrs und schuf durch Einbindung aller Verkehrsträger das damals größte öffentliche Nahverkehrsunternehmen der Welt – und den Einheitstarif, der leicht modifiziert bis heute Bestand hat.

1931 wurde Ernst Reuter, auf Vorschlag des legendären Otto Wels, zum Oberbürgermeister von Magdeburg gewählt. In seiner Amtszeit versuchte er, den Haushalt der Stadt zu sanieren, begonnene Infrastrukturmaßnahmen voranzutreiben und unterstützte Projekte der Arbeitslosen-Selbsthilfe. Im gleichen Jahr organisierte er auch eine erfolgreiche Winternothilfe.

Während seiner Zugehörigkeit zur sozial-demokratischen Reichstagsfraktion lehnte Ernst Reuter das Ermächtigungsgesetz Hitlers im März 1933 ab und wurde mehrere Male von den Nazis festgenommen. Der Einsatz von englischen Freunden bewirkte die Freilassung von Ernst Reuter und über die Niederlande und Großbritannien emigrierte er in die Türkei. Dort lernte er die türkische Sprache und arbeitete als Verkehrsexperte für die Regierung. Daneben war er Professor für Kommunalwissenschaft.

1946 kehrte Ernst Reuter nach Berlin zurück und engagierte sich natürlich sofort wieder in der Kommunalpolitik der Stadt – die damals Weltpolitik – eben Ost-West-Politik wurde. In der Blockadezeit 1948/49 war er der gewählte – aber nicht amtierende – Oberbürgermeister der Stadt in einer Zeit der Bedrohung von außen. Er gewann das Vertrauen der Westmächte, war der Hoffnungsträger der Berlinerinnen und Berliner und wurde mit seiner Weitsicht und seiner einzigartigen Tatkraft zum Symbol für den Freiheitswillen Berlins.

Das Bemerkenswerte ist: All diese geschilderten, unterschiedlichen Stationen kennzeichneten das Leben von Ernst Reuter. Stationen, die für neun Leben gereicht hätten. In dieser einzigartigen Vita spiegeln sich Wahnsinn und Wirren des letzten Jahrhunderts wider. Ernst Reuter musste die Leiden von Krieg, Verfolgung und Konzentrationslager ertragen. Er war dabei mehrmals gezwungen, sein Leben neu zu ordnen oder aufzubauen. Andere wären vielleicht an diesen Lebensaufgaben gescheitert oder hätten aufgegeben. Nicht so Ernst Reuter. Er fand sich und seine Rolle immer wieder aufs Neue. Als Oberbürgermeister und später als erster Regierender Bürgermeister von Berlin hat Ernst Reuter die Geschicke der Stadt entscheidend beeinflusst. Ohne ihn wäre Berlin heute nicht das, was es ist.

Es lohnt sich, sich an das politische Umfeld der frühen Nachkriegszeit erinnern: Zu Reuters Amtszeit tat sich die SPD – lange vor Godesberg – mit der West-Bindung noch schwer. Reuter war seiner Partei darin weit voraus. Die Westmächte hätten dabei aus ihrer Sicht durchaus Gründe vorbringen können, einem Sozialdemokraten gegenüber skeptisch zu bleiben. Schon deshalb, weil dieser Sozialdemokrat auch noch ein Ex-Kommunist war. Es ist schon eine interessante Begebenheit der Geschichte, dass er - der ehemalige Generalsekretär der KPD - das Vertrauen der Amerikaner gewinnen konnte. Dass ihm das gelang, ist Beweis für die Integrität und Weitsicht Ernst Reuters.

Ernst Reuter war ein unermüdlicher und rastloser Trommler für die Freiheit Berlins. Hätten die Amerikaner die Luftbrücke auch durchgeführt, wenn Berlin einen weniger glaubwürdigen und kämpferischen Bürgermeister gehabt hätte? Nun, General Lucius D. Clay hätte es sicher weitaus schwerer in Washington gehabt, sich mit seinen Auffassungen bei Präsident Truman durchzusetzen, wäre nicht Ernst Reuter in Berlin gewesen. Zwischen Clay und Reuter ist dazu ein bemerkenswerter Dialog überliefert. Clay fragte Reuter zu Beginn der Blockade im Sommer 1948, ob die Berliner dem sowjetischen Druck Stand halten würden. Reuter antwortete: „You worry about the airlift, let me worry about the Berliner.”

Am Ende hielten beides, die Luftbrücke und der Freiheitswille der Berliner. Nach elf Monaten öffneten sich wieder die Schlagbäume von und nach West-Berlin und aus den Besatzungsmächten waren Schutzmächte geworden. Dies war auch das Verdienst von Ernst Reuter.

Nach der Zeit der Luftbrücke versuchte Ernst Reuter, Berlin möglichst eng an die entstehende Bundesrepublik zu binden. Er kämpfte gegen jeden Sonderweg für Berlin und setzte durch, dass die Stadt - soweit die alliierten Rechte dies zuließen – zum Rechts-, Wirtschafts- und Finanzsystem der Bundesrepublik gehören konnte. Die Notwendigkeit hat Reuter richtig erkannt und die Weichen dafür richtig gestellt.

Ernst Reuters Pfad zum Vertrauensstifter und Hoffnungsträger in Berlin war nicht gerade, sondern verschlungen. Er war in wechselhaften Zeiten vieles: Ein Patriot und ein Weltbürger. Ein Kommunalpolitiker und ein Außenpolitiker. Ein Visionär und ein nüchterner Pragmatiker.

Er war der erste Berliner Bürgermeister, der zugleich Kietz- und Weltpolitik machen musste. Damit steht Ernst Reuter für die besten Traditionen der Berliner Politik und übrigens auch der deutschen Sozialdemokratie.

Die Stiftung Ernst-Reuter-Archiv hat einerseits die Zielsetzung, Dokumente und Schriftstücke von und über die außergewöhnliche Persönlichkeit Reuters zu bewahren, aufzuarbeiten und zu veröffentlichen. Andererseits dient die Stiftung der Erforschung der jüngeren Geschichte Berlins und ihrer Vermittlung. Denn Ernst Reuters politisches Erbe und das Profil Berlins als freiheitsliebende Stadt sind untrennbar miteinander verbunden.

Sein Wirken kann uns auch in diesen Tagen als Richtschnur dienen. Statt auf nationalen Egoismus setzte Ernst Reuter auf ein geeintes Europa. Im April 1947 sagte er auf einem Berliner Landesparteitag der SPD: „Wir hätten keine Einwendungen dagegen, unseren letzten Buchstaben zu ändern und statt des ‚D’ ein ‚E’ zu akzeptieren, damit wir dann auch in unserem Namen als das erscheinen, was wir politisch sind und wozu wir organisatorisch bereit sind, es zu werden, ein Landesverband der Sozialdemokratischen Partei Europas ...“

Ernst Reuter hat uns also auch für die Zukunft noch vieles mitzuteilen. Deshalb möchte ich allen danken, die am Zustandekommen dieser Stiftung mitgewirkt haben.

Hochverehrter Ehrenbürger von Berlin, lieber Edzard Reuter, Ihr Engagement und Ihr Wirken ist auch in diesem Fall segensreich für Berlin. Ihre Anregungen für diese Stiftung waren wichtig und beflügelnd. Für den Erfolg dieses Projekts ist die Unterstützung der Familie Reuter von unschätzbarem Wert.

Klaus Wowereit und André Schmitz – beide können heute leider nicht hier sein – gilt mein Dank dafür, dass sie mit ihrem politischen Gewicht diese Stiftung realisiert haben.

Ebenso möchte ich einen Dank an Herrn Professor Schaper als Direktor des Landesarchivs dafür aussprechen, dass diese unselbstständige Stiftung des Landesarchivs entstehen konnte.

In diesem Sinne freue ich mich auf einen interessanten Festvortrag von Ihnen, sehr geehrter Herr Professor Brandt und auf das Schlusswort von Edzard Reuter.

Uns allen wünsche ich einen anregenden und angenehmen Abend und ich bin gespannt auf das, was uns das Landesarchiv nun im Anschluss präsentieren wird.

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