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Blick in den Plenarsaal und hauptsächlich die Flaggen für Deutschland, Berlin und Europa

Rede der Präsidentin des Abgeordnetenhauses von Berlin Cornelia Seibeld

16.03.2023 10:00, Abgeordnetenhaus, Plenarsaal

Ganz herzlich möchte ich mich bei Ihnen, den neugewählten Abgeordneten im Berliner Abgeordnetenhaus, bedanken. Ich möchte mich auch für das Vertrauen bedanken, und ich weiß, dass es ein Vorschussvertrauen ist, denn viele von Ihnen kennen mich noch nicht oder jedenfalls kaum. Ich möchte mich auch bei Ihnen allen bedanken, die Sie die Vielfalt dieser Stadt heute hier im Abgeordnetenhaus abbilden.

Ich bin als Präsidentin für die Anliegen und Interessen aller 159 Mitglieder des Abgeordnetenhauses unabhängig von ihrer Partei- und Fraktionszugehörigkeit zuständig. Meine Erfahrungen aus meinem bisherigen Amt als Vizepräsidentin werden mir dabei hoffentlich helfen, und ich baue auch zukünftig auf einen lebhaften Austausch über alle Themen des parlamentarischen Lebens mit Ihnen.

Ich bin mir der Verantwortung, die ich nun habe, absolut bewusst: für dieses Haus, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Verwaltung sowie für die Berlinerinnen und Berliner, für die wir hier stellvertretend die politischen Geschicke lenken.

Anders als zu Beginn der 19. Wahlperiode sind nur noch fünf statt sechs Fraktionen im Berliner Parlament vertreten. Bei den ehemaligen Kolleginnen und Kollegen der FDP möchte ich mich ganz herzlich an dieser Stelle für ihr geleistetes Engagement für unseren Parlamentarismus bedanken.

Die Zusammenarbeit im bisherigen Präsidium mit Dennis Buchner und Bahar Haghanipour war vertrauensvoll und sachorientiert, und ich freue mich, die Herausforderung der nächsten Jahre nicht allein, sondern im Team mit beiden meistern zu dürfen.

Auf die Arbeit von Dennis Buchner werde ich mit Respekt aufbauen. Ich möchte ihm an dieser Stelle auch ganz persönlich noch einmal für seine Amtszeit an der Spitze unseres Hauses herzlich danken.

Natürlich möchte ich mich auch bei meiner eigenen Fraktion für das große Vertrauen bedanken, das mir mit der Nominierung zuteilgeworden ist. Ich freue mich, dass die CDU nun immerhin schon zum zweiten Mal eine Frau für dieses hohe Amt benannt hat. Vielen Dank dafür!

Wir sind als Abgeordnetenhaus in einer erstmaligen, einer einmaligen Situation. Die fatalen Umstände der Wahl aus dem September 2021, das Urteil des Verfassungsgerichtshofs über das Verfehlen der notwendigen Ansprüche an diesen Wahlakt und die daher notwendig gewordene Wiederholungswahl sind mehr als genug Anlass, sich der Grundlagen unserer parlamentarischen Demokratie zu vergewissern. Dabei darf es nun auch nicht mehr rückwirkend um Schuldzuweisungen gehen, sondern vor allem um unsere gemeinsame Verantwortung für die Zukunft – nicht für weniger als die Demokratie in unserer Stadt.

Der Wahlakt der Bürgerinnen und Bürger ist quasi das Hochamt der Demokratie. In seiner regelmäßigen Wiederkehr beweist sich, dass Demokratie nur Herrschaft auf Zeit bedeutet. Eine größere Erschütterung als die Diagnose, dass wir Abgeordnete nicht in einem Akt allgemeiner und gleicher Wahl gemäß Artikel 39 unserer Verfassung gewählt worden sind, lässt sich kaum vorstellen.

Die positive Nachricht ist: Der demokratische Rechtsstaat mit seiner institutionalisierten Gewaltenteilung hat funktioniert. Der Verfassungsgerichtshof hat mit guten Gründen die Wiederholungswahl angeordnet, und Legislative wie Exekutive, Parteien und Regierung haben sich danach gerichtet.

Der erste Schritt zur Wiedererlangung des Vertrauens des Souveräns, der Wählerinnen und Wähler, war es, einen erkannten Fehler zu korrigieren. Das genau unterscheidet uns von Autokraten und Diktatoren jedweder Art. Nur das legitimiert uns als Gesetzgeber, von den Bürgerinnen und Bürgern zu erwarten, dass sie den von uns verfassten Gesetzen auch Folge leisten, weil sie darauf vertrauen können, dass ihre Repräsentanten in einem ordnungsgemäßen Verfahren von ihnen gewählt und die Gesetze in einem regelkonformen Verfahren beschlossen worden sind. Wo auch immer dieses Vertrauen droht, verloren zu gehen, drohen Freiheit und Demokratie an ihr Ende zu geraten.

Zu einer lebendigen, fortdauernden Demokratie gehören nicht nur Verfassungsinstitutionen, die sich an die Regeln halten. Unverzichtbar ist auch der aktive Beitrag der Bürgerschaft, ist das Engagement aus der Berliner Stadtgesellschaft. Dazu gehören die Beiträge des einzelnen Bürgers wie der Gesellschaft, der Parteien, Vereine, Initiativen und anderer Organisationen zu einer lebendigen Auseinandersetzung über alle politisch relevanten Fragen und Themen. Wie die Legitimität über geordnete Verfahren sichergestellt wird, muss auch die Mitwirkung an Wahlverfahren gesichert sein. Demokratie muss organisiert werden. Rund 42 000 Mitbürgerinnen und Mitbürger haben als Wahlhelferinnen und Wahlhelfer in den Wahllokalen oder zum Auszählen der Wahlbriefe die Durchführung der Wahl für rund 1,6 Millionen Wähler erst ermöglicht. Viele Tausend mehr hatten dieses Mal dazu ihre Bereitschaft bekannt. Ihnen allen und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bezirkswahlämter und des Landeswahlleiters gebührt für die vielen Maßnahmen der Vorbereitung, Schulung und Auswertung der Dank und die Anerkennung der gewählten Mitglieder unseres Hauses.

Lassen Sie uns in der restlichen Zeit dieser Wahlperiode dem Engagement unserer Bürger, ihrer Teilhabe und Mitwirkung in diesem Abgeordnetenhaus als würdig erweisen! Hier ist die Bühne für die politischen Diskurse und Dispute dieser Stadt, hier ist der Ort demokratischer Mehrheitsentscheidungen. Wobei gerade für die Opposition, für die jeweilige aktuelle Minderheit, die Aussage in Artikel 38 unserer Verfassung gilt:

Die Opposition ist notwendiger Bestandteil der parlamentarischen Demokratie. Sie hat das Recht auf politische Chancengleichheit. Gerade auf letzteres Ziel bin ich als Parlamentspräsidentin besonders verpflichtet. Opposition muss nicht Mist sein, sondern Opposition ist auch die Regierung im Wartestand. Aber auch Opposition muss sich an parlamentarische Regeln halten. Wenn dies allen Fraktionen gelingt, stärkt dies vor allem die Demokratie in ihrem Ansehen.

Nun lassen sich nicht alle notwendigen Voraussetzungen für ein demokratisches Verhalten und Verfahren in der Verfassung festschreiben. Es ist essenziell, dass die Politiker, Abgeordneten und Senatoren sich mit Leidenschaft und Hingabe für einen Sieg in einer Wahl, für eine Mehrheit in einer Abstimmung einsetzen. Noch wichtiger ist die Bereitschaft, auch eine Niederlage anzuerkennen und sich auch an diesen Ausgang gebunden zu fühlen. Gewinnen zu wollen und verlieren zu können, das zeichnet Demokraten aus, weil nach einer Niederlage eben nicht, wie unser Berliner Ehrenbürger Wolf Biermann es einmal ausgedrückt hat, der Gulag auf den Verlierer wartet. Der Umgang miteinander, unsere Streitkultur sollten im Plenum wie in den Ausschüssen, wo geboten, hart in der Sache sein, klar in der Sprache und immer verbindlich im Persönlichen. Ich möchte einen respektvollen Umgang miteinander nicht nur, aber auch mit meiner Sitzungsleitung vorleben.

Wir alle stehen auf den Schultern von Riesen bei der Erfüllung unserer Aufgaben. Die Orientierung an Vorbildern macht es uns leichter, dem gerecht zu werden. Aus der Gruppe meiner vielen ehrenhaften Amtsvorgänger möchte ich deshalb eine Person hervorheben, die mir auch ganz persönlich Vorbild ist. Die erste Parlamentspräsidentin, die erste Frau an der Spitze dieses Hauses war Hanna-Renate Laurien, eine jener Frauen, die oftmals als Erste Positionen und Ämter in Beruf, in der Politik, der Regierung und der Gesellschaft übernommen haben, die vorher nur Männern vorbehalten waren. Dass sie dabei selbstbewusst, respekteinflößend und durchsetzungsstark war, hat zu ihren Erfolgen genauso beigetragen wie ihre herzliche, offene Art, auf Menschen zuzugehen, und ihr starker christlicher Glaube, der ihr Richtschnur im Leben war. Vieles von dem, was Hanna-Renate Laurien noch hart für sich und andere Frauen erstreiten musste, ist heute selbstverständlich. Aber damit sind Gleichstellung und Gleichberechtigung noch längst nicht erfüllt. Mir ist es wichtig, Politik auch in den konkreten Abläufen familienfreundlicher zu gestalten, und zwar nicht nur, weil Vereinbarkeit von Beruf, Politik und Familie auch mein Leben mitbestimmt, sondern auch, damit sich jenseits dieses Hauses mehr Menschen angesprochen fühlen, sich zu engagieren, mehr Mütter und Väter sich zutrauen, auch solche oder vergleichbare Positionen anzustreben, ohne ihr Elternseinerheblich einschränken zu müssen. Wir können doch niemanden vor die Wahl stellen, ob sie oder er beruflich, gesellschaftlich oder politisch gestalten möchte oder für seine Kinder da sein kann. Diese Vereinbarkeit wird nie gelingen, wenn nicht wenigstens wir als Politiker vorleben, dass es Stellschrauben gibt, hier etwas zu ändern.

Das Ziel kann nicht ein Entweder-oder sein, sondern muss ein Und sein. Wichtige Kernaufgaben des Staates sind es, Sicherheit sowie Schutz und Hilfe für seine Bürger zu gewährleisten. Wir schaffen hier als Gesetzgeber den Rahmen. Wir sind allerdings zwingend darauf angewiesen, dass wir uns zur Durchführung und Durchsetzung verschiedener staatlicher und gesellschaftlicher Organisationen bedienen können, konkret also, dass Menschen für unsere Vorgaben ihren Kopf hinhalten. Deshalb ist es mir auch besonders wichtig, dass unser Parlament vermehrt das Gespräch und den Austausch mit den Einsatzkräften von Polizei, Feuerwehr und Bundeswehr und den Rettungsdiensten wie zum Beispiel dem Deutschen Roten Kreuz und der DLRG sucht. Ihnen soll das Abgeordnetenhaus die sichtbare Anerkennung zollen, die ihnen zusteht.

Sicherheit vor der Verletzung eigener Rechte durch Dritte, Schutz vor existenziellen Risiken bei Krankheit und Infektion sowie Teilhabe durch Bildung sind vorrangige Leistungserwartungen der Bürger an Regierung und Verwaltung. Die Erfüllung dieser Aufgaben der Daseinsvorsorge wird erschwert, wenn politische Vorgaben detaillierte Vorschriften in möglichst vielen Lebensbereichen veranlassen. Zum einen sind die Ressourcen des Staates auch zukünftig finanziell und personell begrenzt. Wer zusätzliche Aufgaben mit der dazugehörigen Kontrolle schafft, schwächt damit den Einsatz für Kernaufgaben. Zum anderen ist es für die Bereitschaft der Bürger, den Vorgaben der Politik Folge zu leisten, kontraproduktiv, wenn sie diese als umfassende Einmischung, Bevormundung oder gar Gängelung empfinden. Der Staat kann nicht alle Aufgaben an sich ziehen, die von Individuen und gesellschaftlichen Organisationen geleistet werden. Er muss in die Eigenständigkeit und Selbstverantwortung seiner Bürger im selben Ausmaß Vertrauen aufbringen, wie diese in seine Berechtigung, die Bereitstellung öffentlicher Güter verbindlich für alle zu regeln. Nur so können Staat und Gesellschaft einander sinnvoll ergänzen.

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine oder das Aufstehen der Frauen und Männer im Iran gegen das Mullah-Regime zeigen, zu welchem Einsatz für eine freiheitliche Demokratie und Selbstbestimmung Menschen bereit sind. Auch im geteilten Deutschland konnten wir diesen Willen und Mut im Herbst 1989 beobachten. Es ist unser Privileg, dass wir nicht genauso gefordert sind, buchstäblich
unser Leben in die Waagschale werfen und gegen Diktatur und Unterdrückung kämpfen zu müssen. Und es ist unsere Pflicht, genau dabei den Ukrainern und den Iranern beizustehen.

Lassen Sie uns gemeinsam unseren Beitrag dazu leisten! – Vielen Dank!