Rede der Präsidentin des Abgeordnetenhauses von Berlin Cornelia Seibeld anlässlich der Enthüllung des Ehrenbürgerporträts von Herrn Daniel Barenboim
11.09.2023 11:30, Abgeordnetenhaus, Festsaal
Sie, lieber Herr Barenboim, haben in Berlin mehr als einmal Musikerinnen und Musiker zusammengebracht, die sich sonst vielleicht nie begegnet wären. Diese beiden Künstler heute Vormittag haben sich genau nach dem Vorbild getroffen, das Sie gegeben haben. Der Geiger Bilal Alnemr stammt aus Damaskus und der Pianist Itamar Carmeli aus Tel Aviv. Die Städte sind nicht sehr weit entfernt voneinander, aber ihre Bevölkerung wird sich im Alltag leider nicht einfach begegnen. Allerdings sind die beiden jungen Musiker Absolventen der Barenboim-Said-Akademie in Berlin-Mitte.
Die meisten von Ihnen werden das Gebäude an der Französischen Straße kennen – wahrscheinlich auch seinen einzigartigen ovalen Konzertsaal von innen, den Pierre-Boulez-Saal. Es ist das ehemalige Kulissenlager der Staatsoper Unter den Linden. Wie so oft, lieber Herr Barenboim, haben Sie hier die ganz unverwechselbare Mischung Ihrer Talente eingesetzt:
- Sie waren bei der Eröffnung 2015 bereits fast 25 Jahre in Berlin – und hatten einmal mehr den Mut zu etwas Neuem in unserer Stadt. Und Sie konnten politische Entscheider im Land und auf Bundesebene dafür begeistern.
- Sie haben hier einmal mehr das Gespür für dasjenige gezeigt, was politisch möglich ist – und was politisch denkbar wäre.
- Sie haben kompromisslos auf musikalischer Exzellenz als oberster Priorität beharrt und mit Musikerinnen und Musikern der jungen Generation aus vielen Ländern auf diese Exzellenz hingearbeitet.
Wie zeitgemäß die Idee ist, mit künstlerischen Mitteln Brücken im Nahen Osten zu bauen – das hat gerade Ihr Berliner Publikum schon Jahre vor Gründung der Akademie verstanden und ist Ihren Weg mitgegangen. Dafür sprechen die vielen tausend Konzertbesucher, die jährlich allein in der Waldbühne in die Konzerte Ihres West-Eastern-Divan-Orchestra strömen.
Mit Ravels Erster Violinsonate heute Vormittag haben wir die Gelegenheit, den Erfolg Ihrer Gründung en miniature nachzuvollziehen. Deshalb freut uns der Auftritt von Ihnen, Herr Alnemr und Herr Carmeli, ganz besonders. Haben Sie vielen Dank!
Sie, Herr Barenboim, haben Musik immer auch als eine Anleitung dafür verstanden, wie sich Menschen außerhalb der musikalischen Sphäre begegnen. Auch davon bleibt unsere Veranstaltung heute Vormittag nicht unberührt. Ich sehe mit großer Freude, dass hier neben den Vertreterinnen und Vertreter der Politik viele Kulturschaffende sitzen – unter ihnen solche, die Kunst und Kultur in Berlin und weit darüber hinaus ermöglichen.
Viele von Ihnen werden nicht oft Gelegenheit finden, in unser Haus zu kommen. Vielleicht haben Sie im Anschluss Zeit, sich einmal hier umzuschauen. Sie können durch ein Fenster einen Blick in den Plenarsaal werfen, und wenn Sie sich dann umdrehen, sind Sie von den Ehrenbürgern Berlins umgeben – in Form jener gemalten Porträts, wie wir heute hier eines enthüllen. Die klassische Musik ist bisher durch den großen Berliner Bariton Dietrich Fischer-Dieskau vertreten – und durch den langjährigen Chef der Berliner Philharmoniker Herbert von Karajan.
Vor wenigen Monaten hatten wir das Vergnügen, mit Ihnen, lieber Herr Barenboim, einen weiteren Dirigenten in die Reihe der Ehrenbürger aufzunehmen. Sie haben Ihr Amt als Generalmusikdirektor der Staatsoper 1992 angetreten. Diese Zeit stellte nicht nur für das Opernhaus eine Epoche des Umbruchs und der Unwägbarkeiten dar – und das gleiche galt damals für viele Menschen in Berlin.
Und aus der geographischen und kulturellen Mitte Berlins heraus, von der Staatsoper Unter den Linden, haben Sie für all diese Menschen Zeichen gesetzt. Eines von sehr vielen ist das der kulturellen Teilhabe: Ihre „Staatsoper für Alle“. Dass Kunst eigentlich für Alle – und gerade in Krisenzeiten – verfügbar und erschwinglich sein sollte, darauf haben Sie immer gedrungen. Dafür ist dieses Open-Air-Konzert jeden Sommer wieder ein starkes Zeichen. Es sprengt mittlerweile nicht nur den sommerlichen Bebelplatz, sondern auch viele vorgefasste Meinungen über Hochkultur.
Viele Berlinerinnen und Berliner erinnern sich gut, dass auch die „Staatsoper für alle“ nur fortsetzt, was in der Erzählung über Daniel Barenboim und Berlin viel früher begann: als Sie im November 1989 ein extra angesetztes „Mauerfallkonzert“ der Berliner Philharmoniker vom Klavier aus dirigierten. Für die Menschen aus Ostberlin galten die Ausweispapiere als Gratis-Eintrittskarte. Der phänomenale Erfolg zeigte ziemlich klar: Das wiedervereinigte Berlin sollte ein Berlin mit sehr viel Musik werden – und auch ein Berlin mit Ihnen, einem Künstler von Weltrang.
Dass es gerade Musik ist, dass es oft klassische Musikerinnen und Musiker sind, die in Zeiten der Krise oder des Umbruchs für Orientierung sorgen – das ist in Berlin nicht neu. Auch die Stadtgesellschaft von Berlin als Ganzem hat das schon früher erlebt – schon vor der Teilung in Ost und West.
Da könnte uns ein Bild aus dem Film „Taking Sides – Der Fall Furtwängler“ des ungarischen Meisterregisseurs István Szabó einfallen. In einer ganz kurzen Einstellung zeigt der Film das spontane Konzert eines Streichquartetts in einer Berliner Bombenruine. Es wird das Jahr 1946 sein, und es regnet in Strömen. Die Berlinerinnen und Berliner stehen mit ihren Regenschirmen in Scharen vor der Ruine und lauschen. In Szabós Film wird zwar eher die politische Rolle von Wilhelm Furtwängler im Nationalsozialismus diskutiert – anhand von Verhörszenen mit einem US-Offizier. Und in der verregneten Konzertszene in den Trümmern von Berlin tritt Furtwängler selbst gar nicht auf. Aber der Film fängt hier in Sekundenschnelle die emotionale Bedeutung ein, die klassische Musik und namentlich eine Dirigentenpersönlichkeit für die verunsicherte Bevölkerung einer Stadt haben können.
Warum rede ich hier über Wilhelm Furtwängler, über eine musikalische Ikone Berlins aus einer vergangenen Zeit? Weil Furtwängler die Instanz ist, bei der das musikalische Berlin und Daniel Barenboim erstmals zusammentrafen. Sie, Herr Barenboim, spielten Furtwängler als Elfjähriger in Salzburg auf dem Klavier vor. Für Sie und Ihren Vater, das haben Sie später beschrieben, war es ein bedeutender Termin. Mit der Musikstadt Berlin war es zunächst nur ein ideeller Kontakt, aber ein Kontakt mit immensen Folgen. Sie wuchsen in Buenos Aires und Tel Aviv auf, an zwei Orten, von denen aus sich Berlin damals besonders weit weg angefühlt haben dürfte: Von Buenos Aires brauchten Sie allein nach Salzburg im Jahr 1952 satte 52 Stunden. Und von den Einwohnern Tel Avivs wiederum wollte damals kaum jemand nach Berlin. Viele ihrer jüdischen Verwandten und Freunde waren hier ermordet worden. Ihr Vater teilte diese Vorbehalte: Furtwängler lud Sie als Klaviersolisten zu den Berliner Philharmonikern ein – Ihr Vater lehnte ab, es war ihm zu früh für eine Reise nach Deutschland. Aber Wilhelm Furtwängler gab Ihnen einen Brief mit. Es wurde Ihr Empfehlungsschreiben für die nächsten zwanzig Jahre.
Wenn Berlin zu diesem Zeitpunkt vielleicht nicht vollständig in Ihr Herz gelangte – es gelangte immerhin in Ihre Bewerbungsmappe. Zehn Jahre später und zehn Jahre nach Furtwänglers Tod gaben Sie dann Ihr Klavierdebüt bei den Berliner Philharmonikern. Mit dem Orchester verbindet Sie bis heute eine besondere Freundschaft.
Sie dürfen nachher gerne widersprechen – aber man erzählt sich, Sie hätten sich während des Dirigierstudiums mit Ihren Freunden Zubin Mehta und Claudio Abbado am Telefon gegenseitig Furtwängler-Aufnahmen vorgespielt. Knisternde alte Tonbänder per Telefon über Ländergrenzen:
Die Anekdote ist für all diejenigen plausibel, die nicht nur den hart erarbeiteten goldenen Klang Ihrer Staatskapelle vor Ohren haben. Sondern die wissen, dass es Ihnen in der Musik nie in erster Linie um schöne Stellen und klangsinnliche Augenblicke ging – weder als Pianist noch als Dirigent und auch nicht vor langer Zeit als junger Furtwängler-Fan. Es ging darum, die Arbeit einer künstlerischen Autorität im Detail zu verstehen: Bei Furtwängler bestand sie darin, musikalisch mit größtmöglicher Subjektivität zu gestalten – und zugleich die musikalischen Gedanken genau nachzuvollziehen, die ein Beethoven oder ein Bruckner im Notentext festgehalten hatten. In die Sphäre außerhalb der Musik könnte man übersetzen: die subjektiven Empfindungen und Erfahrungen immer wieder abgleichen mit dem, was Andere gefühlt und erfahren haben.
Gerade in diesem Sinn sind die Musik und das Musizieren für Sie eine Anleitung – dafür, wie sich Menschen auch im übrigen Leben begegnen sollten. Wer komponiert, ist auf Musizierende angewiesen und umgekehrt – Kammermusiker wiederum sind angewiesen auf ihre jeweiligen Partner. Diese Erfahrung als Musiker von klein auf hat Ihnen Mut und Unbeirrtheit gegeben – selbst auf symbolisch umkämpften Terrain. Es ist eine Unbeirrtheit, die selbst hart gesottene politische Entscheider schon manches Mal verblüfft hat:
- Sie führten mit der Berliner Staatskapelle Musik von Richard Wagner in Israel auf und nahmen den Eklat in Kauf.
- Sie nahmen als Israeli zusätzlich die palästinensische Staatsbürgerschaft an.
- Auf einem neuen traurigen Höhepunkt des Nahost-Konflikts haben Sie einmal gesagt, dass auch Juden und Palästinenser in Israel aufeinander angewiesen seien und daran nicht vorbeikämen.
Meine Damen und Herren:
Unter uns Berlinerinnen und Berlinern, über alle Stadtteile und Bevölkerungsgruppen hinweg, herrscht heute ein Gefühl vor: Wir leben in einer Metropole, die denkbar viele Lebensweisen, Glaubensrichtungen und ethnische Zugehörigkeiten in sich vereinigt. Viele von uns wollen dieses Selbstverständnis leben, sie wollen es gegenüber neu Hinzukommenden verkörpern und zugleich nach außen tragen. Für dieses Selbstverständnis ist die Haltung des Aufeinander-Angewiesen-Seins nicht nur zweckmäßig, sie ist notwendig.
Lieber Daniel Barenboim, wir in Berlin sind dankbar dafür, dass Sie diese Haltung im Dienst der Kunst über eine so lange Zeit beharrlich verkörpert haben. Und dass Sie diese Haltung für eine so lange Zeit Ihres Lebens als ein Berliner gelebt haben.
Meine Damen und Herren,
an dieser Stelle möchte ich noch etwas zu dem Künstler sagen. Du Wenjie lebt und arbeitet in Peking. Sein Schwerpunkt ist die Ölmalerei sowie die traditionelle chinesische Kunst.
Das Werk wurde Herrn Barenboim anlässlich des Besuches einer Delegation des National Center of the Performing Arts im November 2022 übergeben. Herr Barenboim hat das Werk dem Abgeordnetenhaus von Berlin geschenkt. Hierfür nochmal vielen Dank.