
Rede der Präsidentin des Abgeordnetenhauses von Berlin, Cornelia Seibeld, für die Feierstunde aus Anlass des Richterwechsels am Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin
12.02.2025 17:00, Plenarsaal des Kammergerichts
Der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin ist ein Spätankömmling im Vergleich zu anderen Landes-verfassungsgerichten in der Bundesrepublik. Dass er erst vor 35 Jahren eingerichtet wurde, war natürlich eine Folge der Teilung der Stadt und des Viermächtestatus. Nach Wegfall dieser Sonderkonditionen war es wiederum zwingend, auch in Berlin ein Landesverfassungsgericht einzurichten.
Das Grundgesetz konstituiert in Artikel 20 bekanntlich die Bundesrepublik als einen föderalen Staat. Mehr noch, das Grundgesetz garantiert die Eigenstaatlichkeit der Länder, die sich nicht zuletzt in eigenständigen Landesverfassungen und Landesverfassungsgerichten konkretisiert. Öffentliche Debatten über die Rolle der Landesverfassungsgerichte in der Landespolitik finden – anders als beim Bundesverfassungsgericht – eher selten statt. Dabei sind sie die Hüter der jeweiligen Landesverfassung und übernehmen eine zentrale Aufgabe, nämlich den Schutz und die letztverbindliche Auslegung der rechtlichen Grundordnungen in den bundes- und landesverfassungsrechtlich zugewiesenen Kompetenzbereichen.
Auch in Berlin liegen die Kernkompetenzen des Verfassungsgerichtshofes vor allem in der Entscheidung von Organstreitverfahren, Wahlprüfungsverfahren, konkreten und abstrakten Normenkontrollen und Verfassungsbeschwerden. Der Verfassungsgerichtshof ist letztlich eine tragende Säule der Demokratie in Berlin. Konflikte zwischen den demokratischen Akteuren sollen auf der Basis der Verfassung einer abschließenden Lösung zugeführt werden und die Einhaltung der Grundrechte sowie der Regeln der Demokratie gewährleistet werden. Vergleichsweise schnell machte der Verfassungsgerichtshof nach der Aufnahme seiner Arbeit 1992 von sich reden.
Im sogenannten „Honecker-Beschluss“ erklärte er die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft des ehemaligen DDR-Staatsratsvorsitzenden wegen dessen sich im Endstadium befindlicher Krebserkrankung für verfassungswidrig. Eine damals rechtlich und vor allem auch politisch und gesellschaftlich sehr umstrittene Entscheidung.
Die erste Generation der Verfassungsrichter erklärte die Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes zum ungeschriebenen Verfassungsgrundsatz auch der Berliner Verfassung, der auch die staatlichen Berliner Gewalten uneingeschränkt bindet.
Ob die Entscheidung im Fall Honecker damals im Abgeordnetenhaus auch eine Mehrheit gefunden hätte? Das Gute ist: darauf kommt es in unserem Staat nicht an.
Legislative und Judikative müssen nicht zu deckungsgleichen Ergebnissen kommen. Aber sie müssen ihre jeweiligen Kompetenzen zwingend respektieren.
Artikel 38 Abs. 1 VvB besagt: „Das Abgeordnetenhaus ist die von den wahlberechtigten Deutschen gewählte Volksvertretung.“
Insoweit ist unter den drei Gewalten das Abgeordnetenhaus – die Legislative – die einzige mit der direkten Legitimation durch das Volk. Auch daher mag die gesetzgeberische Entscheidung rühren, für die Wahl der 9 Richterinnen und Richter des Verfassungsgerichts-hofes eine Zweidrittelmehrheit vorzusehen. Ausfluss des Föderalismus ist es übrigens, dass die Reglungen zur Wahl der Landesverfassungsrichter in den 16 Bundesländern zum Teil sehr unterschiedlich ausgestaltet sind.
Andererseits ist es die richterliche Unabhängigkeit, die für eine unparteiische Rechtsprechung Sorge tragen soll. Dieses Recht der Letztentscheidung benötigt in der Bevölkerung und bei den Verfassungsorganen ein besonderes Vertrauen. Nur dann begegnen Entscheidungen des Verfassungsgerichts der entsprechenden breiten Akzeptanz.
Ein naturgemäß besonders kritischer Fall ist dann gegeben, wenn wie in der Amtszeit der jetzt ausgeschiedenen Richterinnen und Richter quasi das Hochamt der Demokratie, der Wahlakt der Bürgerinnen und Bürger, im Jahr 2021 nicht den Maßstäben einer allgemeinen und gleichen Wahl nach Art. 39 VvB entsprochen hat.
Die positive Nachricht war: Der demokratische Rechtsstaat mit seiner institutionalisierten Gewaltenteilung hat funktioniert. Der Verfassungsgerichtshof hat mit guten Argumenten die vollständige Wiederholungswahl angeordnet. Legislative wie Exekutive, Parteien und Regierung haben sich danach gerichtet, haben anerkannt, dass demokratische Institutionen sich zwingend durch die Einhaltung der Regeln legitimieren und immer nur Herrschaft auf Zeit sind. Zweifelsohne war keine andere Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes von so grundlegender Bedeutung und erheblicher Auswirkung auf das Berliner Politikleben. Der erste Schritt zur Wiedererlangung des Vertrauens der Bürgerinnen und Bürger war es, einen erkannten Fehler zu korrigieren. Das genau unterscheidet uns Demokraten von Autokraten und Diktatoren jedweder Art.
Dieses wieder gewonnene Vertrauen kam auch in der weitverbreiteten Bereitschaft zehntausender Mitbürgerinnen und Mitbürger zum Ausdruck, als Wahlhelferinnen und Wahlhelfer in den Wahllokalen oder beim Auszählen der Wahlbriefe mitzuhelfen. Auch deshalb ist es gelungen, die Wahl zum Abgeordnetenhaus heute vor genau zwei Jahren verfassungsgemäß durchzuführen. Aber natürlich galt und gilt es hier auch gesetzgeberisch noch die eine oder andere Weiche im Rahmen der Organisation von Wahlen zu stellen. Entsprechende Änderungen befinden sich derzeit in der parlamentarischen Beratung.
Demokratie muss organisiert werden. Das gilt natürlich auch aktuell. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bezirkswahlämter und des Landeswahlleiters sind mit den Vorbereitungen des Wahltages am 23.02.2025 und der Ermöglichung des Wahlaktes für den Deutschen Bundestag intensiv befasst. Alle, die einen respektvollen Wahlkampf führen, wie diejenigen, die die organisatorischen Voraussetzungen schaffen, verdienen unsere Anerkennung und großen Dank.
Die institutionelle Unabhängigkeit eines Verfassungsgerichts zeigt sich vor allem an der für das Richterwahlverfahren erforderlichen breiten Mehrheit im Parlament, der Ausgestaltung der Amtszeiten, dem Fehlen einer Möglichkeit der Wiederwahl sowie der Abschirmung der Richterinnen und Richter vor politischem Druck.
Je „konsensdemokratischer“ – unter sehr verschiedenen Fraktionen des Abgeordnetenhauses – die Wahl der Verfassungsrichter ausgestaltet ist, umso unabhängiger dürften auch die gewählten Richterinnen und Richter sein. Die Zweidrittelmehrheit schließt effizient aus, dass es einer Gruppe oder Fraktion im Parlament gelingt, einseitig nur ihr wohlgesonnene Verfassungsrichter im höchsten Gericht zu platzieren.
Die Kehrseite der Medaille des Erfordernisses der Zweidrittelmehrheit zur Wahl haben die ausgeschiedenen Verfassungsrichterinnen und –richter am eigenen Leib erdulden müssen. Die Entscheidungsfindung hat ob der hohen Hürden viel zu lange gedauert. Diesen Missstand habe ich daher auch vielfach bei den Fraktionen nachdrücklich angemahnt. Leider haben wir gute Gründe, uns mit der Absicherung unserer Verfassungsgerichte in Deutschland zu beschäftigen.
In Europa haben uns die Beispiele in Ungarn und Polen gezeigt, wie ohne entsprechende Sicherungsmaßnahmen der Rechtsstaat im Allgemeinen und die Verfassungsgerichtsbarkeit im Besonderen bis hin zum Verlust der Unabhängigkeit ausgehöhlt, ja geradezu gekapert werden konnten.
Im Bundestag und im Bundesrat haben sich daher die notwendigen Zweidrittelmehrheiten gefunden, um wesentliche Merkmale der Unabhängigkeit des Bundesverfassungsgerichts im Grundgesetz festzuschreiben und damit noch besser vor Angriffen zu schützen.
Selbstverständlich müssen auch die obersten Hüter der Landesverfassungen vor dem Zugriff autoritärer Kräfte bewahrt werden.
Für Berlin gilt es im Vergleich zu manch einem anderen Bundesland festzuhalten, dass in Art. 84 VvB bereits einige präzise Vorgaben für den Verfassungsgerichtshof enthalten sind. Der Verfassungsgerichthof besteht aus neun Mitgliedern, einem Präsidenten, einem Vizepräsidenten und sieben weiteren Verfassungsrichtern. Davon müssen drei zum Zeitpunkt ihrer Wahl Berufsrichter sein und drei weitere die Befähigung zum Richteramt haben.
Man könnte auch das Verbot der Wiederwahl und die Amtsdauer von sieben Jahren zusätzlich in die Verfassung aufnehmen. Zudem könnte auch noch ausdrücklich festgeschrieben werden, dass der Verfassungsgerichtshof ein Verfassungsorgan ist und seine Entscheidungen Bindungswirkung für alle anderen Verfassungs- und Staatsorgane haben.
Letztlich will ich aber entschieden vor einer Illusion warnen. Die Schutzwirkung von Rechtsvorschriften – welcher Qualität auch immer – vor systemumstürzenden, demokratiefeindlichen Parteien wird begrenzt bleiben. Wer unser System der Gewaltenteilung, der Bindung an Gesetz und Recht, der Begrenzung der Amtszeit und der regelmäßigen Wiederkehr von freien und fairen Wahlen abschaffen will, der wird sich nur bedingt durch Rechtsakte davon abhalten lassen. Nichts desto trotz ist es richtig und wichtig, die Resilienz unserer Verfassungsgerichte auf den Prüfstand zu stellen.
Wir befinden uns in einer weltweiten Systemkonkurrenz mit autoritären, ja totalitären Systemalternativen. Und natürlich zählen dabei nicht nur die guten Absichten, sondern auch, ob wir Demokraten geeignete Lösungen für die Probleme der Bürgerinnen und Bürger anbieten. Das Mittel der Wahl ist in einer Demokratie die politisch-gesellschaftliche Auseinandersetzung. Und ja: am Ende der Auseinandersetzung müssen Lösungen stehen, die parlamentarische und gesellschaftliche Akzeptanz finden.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner NPD-Entscheidung 2017 formuliert, das Grundgesetz priorisiere „die ständige geistige Auseinandersetzung. Es vertraut auf die Kraft dieser Auseinandersetzung als wirksamste Waffe auch gegen die Verbreitung totalitärer und menschenverachtender Ideologien.“
Das bleibt uns allen als gemeinsame Aufgabe, der Kampf für das bessere Argument, für die überzeugenderen Ergebnisse freier Gesellschaftsentwürfe und ja – auch für den Kompromiss statt wohlfeiler Gesinnungsethik.
Den ausgeschiedenen sechs Mitgliedern des Verfassungsgerichtshofes möchte ich ausdrücklich auch im Namen meiner Kolleginnen und Kollegen im Abgeordnetenhaus für ihren Einsatz für unser Gemeinwesen, für das Funktionieren der Demokratie und der Gerichtsbarkeit in unserer Stadt Berlin danken.
Wir wissen, dass wir umständehalber ihre Geduld hinsichtlich des Endes ihrer Amtszeit etwas strapaziert haben. Den Nachfolgerinnen und Nachfolgern im Verfassungsgerichtshof kann ich nur noch einmal versichern, dass sie mit einer breiten demokratischen Unterstützung aus dem Abgeordnetenhaus in ihr verantwortungsvolles Amt gewählt worden sind und dass Sie sich auf spannende sieben Jahre in der neuen Funktion freuen dürfen. Einen ersten Eindruck werden Sie ja in den vergangenen Monaten schon gewonnen haben. Einen ganz besonderen Dank habe ich mir für den Schluss aufgehoben.
Liebe Frau Selting, mein sehr persönlicher Dank geht an Sie für die intensive, wohlüberlegte und immer konstruktive Zusammenarbeit – insbesondere, aber nicht nur in den Jahren der ausstehenden Neuwahl der Verfassungsrichter.
Ich wünsche Ihnen und ihrem neuen Team gutes Gelingen!