1. zur Suche
  2. zur Hauptnavigation
  3. zum Inhalt
  4. zum Bereichsmenü
Blick in den Plenarsaal und hauptsächlich die Flaggen für Deutschland, Berlin und Europa
Nach unten

Rede der Präsidentin des Abgeordnetenhauses von Berlin, Cornelia Seibeld, zum 2. Jahrestag des Überfalls der Terrororganisation Hamas auf Israel

10.10.2025 10:00, Abgeordentenhaus, Plenarsaal

Stellen Sie sich vor, Sie sind auf einem Musikfestival. Musik, Tanz, Freude, Freiheit bis tief in die Nacht. Plötzlich fallen Schüsse, Explosionen erschüttern das Morgengrauen, Menschen laufen in Panik um ihr Leben. Ein Moment der Unbeschwertheit verwandelt sich in blankes Entsetzen, Sie sind inmitten eines Terrorüberfalls. Sie sind den Angreifern hilflos ausgeliefert. In Todesangst versuchen Sie davonzulaufen, Sich zu retten. Neben Ihnen werden Freunde und Bekannte durch Schüsse getötet. Die Hölle ist über Sie eingebrochen.

So oder ähnlich geschah es am 7. Oktober 2023 beim „Nova-Festival“ in Israel. Erbarmungslos jagten und töteten die Angreifer. Flüchtende Menschen wurden in ihren Autos erschossen. In einem Schutzraum starben zwanzig unbewaffnete junge Erwachsene durch Handgranaten und Schüsse. Frauen, Mädchen, aber auch Kinder und Männer wurden brutal vergewaltigt.

Allein auf dem Festival wurden 411 meist junge Besucherinnen und Besucher ermordet. Tausende von Raketen trafen israelische Siedlungen und Ortschaften. Die Terroristen griffen in ihrer Mordlust wahllos Menschen an – Kinder, Frauen, Männer und Alte. Insgesamt starben an diesem Tag über 1200 Menschen durch den Angriff der Hamas. Mehr als 240 Menschen wurden als Geiseln brutal in den Gazastreifen verschleppt. Dieser Tag hat sich tief ins Gedächtnis von Israelis und Juden auf der ganzen Welt eingebrannt.

Ich war am Sonntagabend – wie auch der Botschafter – bei der Eröffnung der Ausstellung zum Nova-Festival im Flughafen Tempelhof. Und ich kann Ihnen und Ihren Lehrern nur ans Herz legen, die Ausstellung zu besuchen. Aber es ist keine leichte Kost. Alltagsgegenstände von Getöteten, Bilder, Kerzen und Lebensläufe zu den Ermordeten, ausgebrannte Fahrzeugwracks, Betonschutzräume.

Besonders in diesen Tagen rund um den 7.Oktober erinnern wir uns an den Terrorismus, die unzähligen Getöteten und die immer noch 48 Geiseln in den Händen der Hamas. Sieben Geiseln sind deutsche Staatsbürger. Vor kurzem veröffentlichte die Hamas ein Video von Alon Ohel, der beim „Nova-Festival“ verschleppt wurde. Alon Ohel ist Pianist, deutscher Staatsbürger. Nach über 700 Tagen Gefangenschaft ist ihm das Leid deutlich anzusehen. Wenn die Nachrichten nicht trügen, dann gibt es aufgrund der laufenden Verhandlungen die begründete Hoffnung, dass sich die wichtigste Forderung an die Hamas erfüllen wird: Alle Geiseln müssen freigelassen werden! Und ich hoffe, dass ich diesen Satz heute tatsächlilch zum letzen Mal sagen werde: Bring them home now!

Wir müssen die Ereignisse des 7. Oktober kennen, um über den derzeitigen Krieg im Nahen Osten diskutieren zu können. Und wir müssen uns mit den Folgen des Angriffs auseinandersetzen. Denn dieser Tag hat nicht nur Israel, sondern die ganze Welt verändert. Seitdem herrscht Krieg. Und während Israel gegen die Hamas kämpft, leiden unzählige Zivilisten im Gazastreifen. Familien sind auf der Flucht, es fehlt an Nahrung, Wasser und medizinischer Versorgung. Auch das gehört zur Wahrheit. Für die Menschen im Gazastreifen wäre der im Trump-Plan vorgesehene Waffenstillstand eine Erlösung. Endlich könnten alle notwendigen Versorgungsgüter zu ihnen gelangen - wenn denn auch die Hamas dies ermöglicht.

Auch hier in Deutschland, in Berlin, auf unseren Straßen und Schulhöfen, ist der Konflikt allgegenwärtig. Gerade Sie, die jungen Menschen, sehen diese Bilder täglich auf Instagram, TikTok oder in Messenger-Diensten. Sie nehmen Leid und Ungerechtigkeit unmittelbar wahr. Und manchmal drängen diese Eindrücke den Ursprung der Gewalt, den 7. Oktober, in den Hintergrund. Aber wer verstehen will, was heute geschieht, muss auch die Geschichte und die Vorgeschichte kennen.

Es kursieren viele vereinfachte oder falsche Erzählungen – etwa die Vorstellung, die Palästinenser seien immer nur Opfer gewesen und die Juden immer nur Täter. Tatsache ist: Im Gebiet Palästinas lebten schon lange vor 1948 sowohl Juden als auch Araber. 1947 verabschiedeten die Vereinten Nationen einen Teilungsplan; als Israel 1948 seine Unabhängigkeit erklärte, griffen die Nachbarstaaten das Land sofort an. Viele Menschen flohen oder wurden vertrieben, und der Gazastreifen wie das Westjordanland gerieten unter ägyptische bzw. jordanische Kontrolle. Zahlreiche Flüchtlinge lebten fortan in Lagern.

Israel kämpft seit seiner Gründung um seine Existenz. Besonders deutlich wird das in Sderot, der Partnergemeinde meines Heimatbezirks Steglitz-Zehlendorf. Tausende Raketen haben die Stadt in den vergangenen 25 Jahren getroffen. Die im Bürgermeisterbüro gesammelten Überreste von Raketen erzählen eindrücklich von der ständigen Bedrohung, mit der die Menschen dort leben müssen. Auch bunkerähnliche Bereiche auf Schulhöfen und Bushaltestellen, die raketensicher sein sollen, zeugen davon.

Die Situation in Israel, im Gazastreifen, im Westjordanland ist nicht einfach, nicht schwarz oder weiß. Jeder, der schon einmal in Israel war oder sich mit der Situation ernsthaft auseinandergesetzt hat, weiß das. Deswegen ist es mir wichtig, mit Veranstaltungen wie dieser die Möglichkeit zur Diskussion, zum Dialog und zum Diskurs zu schaffen. Denn jeder, der den Eindruck erweckt, man könne den Krieg im Nahen Osten oder gar die Ursachen und Hintergründe in wenigen Sekunden auf TikTok erklären, der lügt.

Für Deutschland ergibt sich aus der Geschichte eine besondere Verantwortung: Nach der nationalsozialistischen Vernichtung von Juden ist die Sicherheit Israels Teil unserer Staatsräson. Das heißt nicht, dass man die Politik der israelischen Regierung nicht kritisieren darf. Kritik ist in einer Demokratie erlaubt und nötig – auch in Israel selbst, wo Menschen immer wieder gegen ihre Regierung demonstrieren. Vertreibungen oder die Annexion von Land sind nicht gerechtfertigt. Solche Maßnahmen verletzen die Rechte der Menschen vor Ort – und sie werden den Geiseln nicht zur Freiheit verhelfen.

Aber Staatsräson heißt auch, dass Deutschland immer für die Existenz und Unabhängigkeit Israels einsteht! Aber zwischen Kritik und Hass, zwischen Debatte und Gewalt gibt es einen klaren Unterschied. Deshalb sage ich hier im Abgeordnetenhaus, dem Ort der Debatte und des Austauschs: Lassen Sie uns streiten, lassen Sie uns diskutieren – aber immer mit Respekt. Gewalt, egal von welcher Seite, ist niemals ein Mittel der politischen Auseinandersetzung.

Liebe Schülerinnen und Schüler, Ihre Fragen, Ihr Widerspruch, Ihre Gedanken sind heute ausdrücklich erwünscht. Nur so können wir lernen, nur so können wir verstehen. Ich danke Ihnen und Ihren Lehrerinnen und Lehrern herzlich für die heutige Teilnahme und das Interesse. Und ich danke vor allem unseren Gästen, die als Zeitzeugen den Mut haben, heute ihre Erlebnisse mit uns zu teilen. Lassen Sie uns gemeinsam zuhören, nachdenken – und im Gespräch bleiben.