
Rede der Präsidentin des Abgeordnetenhauses von Berlin, Cornelia Seibeld, zum Feierlichen Gelöbnis der Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr
23.05.2025 17:00, Vorplatz des Abgeordnetenhauses von Berlin
Spielen Sie in Ihrer Familie gerne mal ein Gesellschaftsspiel? Etwa „Mensch ärgere Dich nicht“? Da kann es passieren, dass sich der Spielverlauf für eine Mitspielerin oder einen Mitspieler ungünstig entwickelt. Wie sollen dann die anderen Mitspieler damit umgehen, wenn dieser Mitspieler sich z.B. nicht rauswerfen lassen will. Oder sich einen Vorteil verschafft, indem er doppelt so viele Felder hinter sich lässt, wie es sein Würfelergebnis erlauben würde – umgangssprachlich also schummelt. Für diese Fälle gibt es Spielregeln. Und schon sind wir in einer Konstellation, wie sie nicht nur bei „Mensch ärgere Dich nicht“ vorkommen kann.
Solche Situationen können auch in den internationalen Beziehungen entstehen. In einer Familie übernehmen regelmäßig die Eltern die Aufgabe, für die Einhaltung von Regeln zu sorgen. Wird ihnen nicht gefolgt, so gibt es Zurechtweisungen, bei wiederholtem Schummeln vielleicht auch Strafen – oder das Spiel wird eingestellt. Im Umgang von Staaten untereinander gelten auch Regeln:
– das Völkerrecht,
– multilaterale und bilaterale Verträge,
– die Anerkennung der Souveränität und territorialen Integrität anderer Staaten,
– Handelsabkommen
und vieles mehr. Wer sorgt bei Regelverstößen, gar bei Angriffskriegen dafür, dass diese geahndet werden?
Nach dem Ende des Kalten Krieges haben sich viele Staaten in Europa, die bis dahin dem Zwangsregime des Kommunismus in der Sowjetunion unterlagen, neu orientiert. Sie haben sich für eine innere Ordnung mit Rechtsstaat und Demokratie entschieden. Sie haben sich der Europäischen Union mit ihren marktwirtschaftlichen Prinzipien angeschlossen. Und sie haben sich aus freien Stücken der NATO angeschlossen, damit sie besser vor einer feindlichen Aggression geschützt sind. Der Garant für diese Entscheidungen waren die Vereinigten Staaten von Amerika.
Nun gibt es eine dramatische Änderung unserer Sicherheitslage. Der bisherige Schiedsrichter in den europäischen Angelegenheiten, die USA, wollen diese Aufgabe nicht mehr ausüben. Schlimmer noch, die Regierung von Präsident Trump schließt sich der russischen Sichtweise an: Nicht allgemein verbindliche Regeln schaffen Sicherheit, sondern die Einigung von Großmächten auf Einflusszonen. Konkret bedeutet die Zuerkennung eines regionalen Vormachtanspruchs für Russland, die Eigenständigkeit der Ukraine und auch Moldaus zu opfern. Beide Staaten sind aus russischer Sicht eine Gefahr, weil sie mit ihren demokratischen Systemen eine Alternative zum autoritären russischen System abbilden. Sollten beide Staaten durch ihre Westbindung auch noch Wohlstand erlangen, wären sie ein überzeugendes Vorbild für Systemänderungen in Russland. Der Rückhalt Wladimir Putins in Russland wäre vielleicht gefährdet.
Bisher hat sich die Ukraine mit den USA und Europa gegen den russischen Versuch der Einverleibung gewehrt. Mit Trumps Seitenwechsel ist Europa - einschließlich der Ukraine - endgültig auf sich allein gestellt. Die Zeit des europäischen Selbstbetrugs – die Vorstellung, die USA seien für immer unsere Schutzmacht – ist vorbei. Europa steht vor der grundlegenden Wahl: Entweder Selbstbehauptung mit allen Konsequenzen - oder Unterwerfung.
Heute vor 76 Jahren, am 23. Mai 1949, wurde mit Inkrafttreten des Grundgesetzes nach der Verbrechens-herrschaft des Nationalsozialismus ein Neuanfang begonnen. Seither gelten die Regeln unseres demokratischen Rechtsstaats. Die freiheitlich-demokratische Grundordnung unseres Grundgesetzes bleibt uns aber nur erhalten, wenn wir eine wehrhafte Demokratie sind. Wir müssen sie gegen innere Feinde genauso wie gegen äußere Feinde beschützen. Wie wehrfähig sind wir eigentlich? Das betrifft natürlich zuerst einmal den Zustand unserer Armee. Die Vernachlässigung in den letzten Jahrzehnten ist offensichtlich.
Der Deutsche Bundestag hat seine Verantwortung für unsere Soldatinnen und Soldaten und ihre Ausstattung mit einer Grundgesetzänderung aktiv wahrgenommen. Endlich gibt es die Aussicht, dass für die Verteidigung auch die erforderlichen finanziellen Mittel zur Verfügung stehen werden. Die Frage, wie wehrhaft wir sind, richtet sich aber an die gesamte Gesellschaft. Wieviel Pflichten, wieviel zusätzliche Anforderungen sind wir als Gemeinschaft, ist jeder Einzelne von uns bereit, auf sich zu nehmen?
Viele Berufsgruppen können ihren Beitrag für die Belange des Zivilschutzes leisten. Das betrifft natürlich die Gesundheitsberufe, aber auch alle, die für die Versorgung mit Wasser und Strom zuständig sind. Genauso bedeutend sind die Sicherheit unserer Datennetze und die Aufrechterhaltung des Verkehrs. Wer sich beim Technischen Hilfswerk engagiert, sorgt für den Katastrophenschutz genauso vor wie für den Verteidigungsfall. In der Hauptstadt Berlin ist dieses Engagement besonders wichtig.
Liebe Soldatinnen und Soldaten,
zweifellos ist der Schutz unseres Staates vor äußeren Bedrohungen Ihre besondere Aufgabe. Sie machen die Abschreckung eines Aggressors erst möglich. Alle Bundeswehrsoldaten tragen dazu durch ihren persönlichen Dienst bei. Den Rekruten des heutigen Gelöbnisses, den Zeitsoldaten und freiwillig Wehrdienstleistenden, gebührt unser aller Dank und vor allem unsere Unterstützung. Sie brauchen aber für die Zukunft nicht nur mehr und bessere Waffen. Sie brauchen auch mehr Kameradinnen und Kameraden an ihrer Seite. In einer offenen Gesellschaft muss das diskutiert werden: „Wehrpflicht oder Gesellschaftsjahr?“ Neben dem Austausch von Argumenten gehört dazu auch der Blick über die Grenzen.
In Skandinavien finden wir Gesellschaften, die unserer gewiss nicht in ihren freiheitlichen Ansprüchen nachstehen. Von der allgemeinen verpflichtenden Wehrpflicht wie in Finnland bis hin zu Modellen der Erfassung und Freiwilligkeit wie in Schweden, gibt es eine große Bandbreite. Dabei wird Dänemark ab dem nächsten Jahr auch die jungen Frauen einbeziehen und sie genauso wie die jungen Männer einem Losentscheid unterwerfen. Die Aufstellung einer Heimatschutzdivision unter Verantwortung des Heeres verdeutlicht die sehr konkreten Aufgaben in allen Teilen unseres Landes. Heimat ist mehr als ein Ort. Heimat trägt man im Herzen. Freiheit, Demokratie und Vielfalt müssen vor Ort geschützt werden.
Sie, liebe Rekruten, sind die Vorbilder für uns alle. Ihre Familien und ihr Freundeskreis stellen die notwendige Unterstützung für Ihren Dienst dar. Dafür möchte ich Ihnen allen auch im Namen meiner Kolleginnen und Kollegen aus dem Abgeordnetenhaus von ganzem Herzen danken.
Ich wünsche Ihnen für die Durchführung Ihrer Aufgaben viel Erfolg. Herzlichen Dank!