1. zur Suche
  2. zur Hauptnavigation
  3. zum Inhalt
  4. zum Bereichsmenü
Blick in den Plenarsaal und hauptsächlich die Flaggen für Deutschland, Berlin und Europa

Rede der Präsidentin des Abgeordnetenhauses von Berlin Cornelia Seibeld zum gemeinsamen Empfang mit dem Regierenden Bürgermeister von Berlin zu 20 Jahre Erweiterung der Europäischen Union

29.04.2024 16:30, Abgeordnetenhaus, Festsaal

Wir feiern heute hier den Beitritt von zehn Staaten zur Europäischen Union am 1. Mai 2004. Es waren acht Länder aus Mittel- und Osteuropa sowie zwei Länder aus dem Mittelmeerraum. Malta und Zypern können auf eine sehr lange Geschichte zurückblicken. Bereits seit der Bronzezeit waren sie Stätten europäischer Hochkulturen. Dieses Erbe und ihre attraktive Lage im Mittelmeer üben für uns Menschen, die nördlich der Alpen beheimatet sind, eine große Anziehungskraft aus. Vom BER gibt es Direktflüge für beide Destinationen, was für die große Wertschätzung der Berlinerinnen und Berliner spricht.

Weitaus komplexer waren und sind die Beziehungen zu den Ländern, denen dieser Beitritt die Kennzeichnung als Osterweiterung verdankt: Estland, Lettland, Litauen, Polen, die Slowakei, Slowenien, Tschechische Republik und Ungarn. Ihr Beitritt ist nur auf der Grundlage der Ereignisse der Jahre 1989 und 1990 erklärbar. Spezifisch aus deutscher Sicht war er auch die Einlösung eines Versprechens. Dieses Versprechen hat Bundeskanzler Helmut Kohl am 40. Geburtstag des Grundgesetzes, dem 23. Mai 1989, so formuliert:
„Die Wiedervereinigung Deutschlands ist Verfassungsauftrag; Friedenspolitik und europäische Einigung sind es ebenfalls. Nur Europa kann den Rahmen bilden, in dem auch alle Deutschen in Einheit und Freiheit zusammenkommen. Zur Verwirklichung dieses Ziels brauchen wir das Verständnis und die Unterstützung unserer Nachbarn und Freunde in Europa:“

Als ein halbes Jahr später, am 9. November 1989, die Mauer in der geteilten Stadt Berlin durch die Menschen aus dem Ostteil der Stadt quasi eingedrückt wurde, da war das die Folge des friedlichen Aufstands gegen die SED-Parteidiktatur in der DDR. Allerdings hatte der Mut und die Entschlossenheit vieler DDR-Bürger ein großes Vorbild in unmittelbarer Nachbarschaft: Polen. Und der Eiserne Vorhang, wie Churchill die Grenze des sowjetischen Machtbereichs zum Westen nannte, hatte bereits ein großes Loch zum Durchschlüpfen bekommen: Ungarn.

Aufstände der Bevölkerung hatte es in einzelnen Staaten der Zwangsgemeinschaft der Staaten des Warschauer Pakts bereits mehrfach gegeben.
• Bereits 1953 in der DDR,
• 1956 in Ungarn und Polen,
• 1968 in der Tschechoslowakei,
• 1970 in Polen und bereits 1980 wieder in Polen.
• Und in Estland, Lettland und Litauen waren die Liederfeste friedliche Demonstrationen des Wunsches nach Unabhängigkeit von russischer Unterdrückung.

Unter der Führung des Generalsekretärs der KPdSU, Michael Gorbatschow, ließ die Sowjetunion in der zweiten Hälfte der Achtziger Jahre mehr Spielraum für eigenständige Entwicklung zu, ja sie versuchte selber neue Dynamik durch weniger Repression zu gewinnen. Wie bei allen Revolutionen seit 1848 gab es eine staatenübergreifende europäische Bewegung.

Und an der Nahtstelle der europäischen Teilung, an der künstlichen Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten kam es zur größten Dynamik. Nicht einmal ein Jahr später, am 3. Oktober 1990 konnte Deutschland seine Wiedervereinigung feiern. Voraussetzung war, dass die Siegermächte des II. Weltkrieges den Deutschen mit dem 2+4-Vertrag ein völkerrechtliches Fundament für den Neuanfang ermöglichten.

Dazu gehörte, dass das vereinigte Deutschland Mitglied der NATO und der Europäischen Gemeinschaft blieb und endgültig alle Grenzziehungen der Siegermächte für sich anerkannte. Sollte es das gewesen sein? Der Zerfall des Warschauer Paktes und bald darauf folgend der Zerfall der Sowjetunion?

Und als Folge eine Staatenwelt in Mittel- und Osteuropa wie in der Zwischenkriegszeit? Mit allen Risiken und Nebenwirkungen? Die Erfahrungen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wirkten nach. Mit dem Vertrag von Maastricht von 1992 machten sich die zwölf westeuropäischen Staaten auf den Weg, die Europäische Union zu begründen, mit dem Kern einer Wirtschafts- und Währungsunion sowie der Zusammenarbeit der Justiz- und Innenminister und Strukturen einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik.

Um Demokratie, Rechtsstaat und Marktwirtschaft in den wieder eigenständigen osteuropäischen Staaten zu stützen und zu stabilisieren, mussten sie sich parallel zum Vertiefungsprojekt der Westeuropäer auf die Kriterien und Vorgaben der Europäischen Union für den eigenen Beitritt einstellen. Das verlangte den Menschen und den Staatsführungen in Mittel- und Osteuropa die Bereitschaft zu fundamentalen Veränderungen in kurzer Zeit ab. Für den Lebensalltag der Menschen war die Vorbereitung auf die EU sogar einschneidender, als die Aufnahme in die NATO. Es war insbesondere eine Verpflichtung des wiedervereinigten Deutschlands, beide Prozesse, den der weitergehenden Integration und den der Aufnahme neuer Mitglieder in die EU, mit aller Kraft zu fördern.

Auf halber Strecke zwischen 1990 und 2004, im Jahre 1997 war es der 40. Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge, der Helmut Kohl mahnen ließ:
„Die Europäische Union wird auch zukünftig kein exklusiver Klub sein; sie darf nicht an Oder und Neiße enden! Deshalb wollen wir neben der Vertiefung auch die Erweiterung der Europäischen Union nach Osten und nach Südosten. Ohne die Erweiterung nach Osten und Südosten bliebe die Europäische Union ein Torso“. Als es dann 2004 soweit war, gab es große Bedenken, nicht zuletzt auch in der deutschen Bevölkerung. Es überwog die Sorge vor neuen Unterstützungszahlungen und Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt.

Im einheitlichen europäischen Binnenmarkt kommen die vier Freiheiten zur Anwendung. Die Freiheiten des Personen-, des Waren-, des Dienstleistungs- und des Kapitalverkehrs. Und auch den nächsten Schritt, eine gemeinsame Währung, den Euro, sind sieben der zehn Beitrittsländer des Jahres 2004 später gegangen. Unter dem Strich haben sich für die Neulinge im Binnenmarkt ihre harten Anpassungsprozesse gelohnt. Statistiken belegen den beeindruckenden Aufholprozess. In der Mehrzahl der Fälle hat sich das Bruttoinlandsprodukt je Kopf seit 2004 verdoppelt, die Arbeitslosenraten sind im Vergleich aller Mitgliedsländer unterdurchschnittlich, die Löhne hingegen nähern sich kontinuierlich dem EU-Schnitt an. Und ja, gerade auch für Deutschland hat es einen ganz wesentlichen Wachstumsschub gegeben.

Die EU hat die Bewährungsprobe der Eurokrise bestanden und die Slowaken und die baltischen Staaten profitieren bereits von ihrer Einbindung in den Euro-Kapitalmarkt. Warum sollten Polen, die Tschechische Republik und Ungarn durch ihren Beitritt zur gemeinsamen Währung nicht auch einen weiteren Schritt zur Vollendung der EU-Osterweiterung gehen? So richtig es ist, auf die Leistungen der vergangenen 35 Jahre im Allgemeinen und der letzten 20 Jahre im Besonderen zurück zu schauen, so wenig dürfen die realen Probleme verkannt werden. Über die Zukunft des geeinten Europas entscheidet seit jeher der Umgang mit Krieg und Frieden. Wird es der EU gelingen, durch ihre militärische Hilfe dazu beizutragen, den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine abzuwehren?

Werden die Regeln des friedlichen Miteinanders , wie sie für Europa in den Neunzigern verbindlich festgelegt wurden, gegen imperiale russische Absichten durchgesetzt werden können? Sind wir willens und in der Lage, die Souveränität der Ukraine zu schützen und die territoriale Integrität der Ukraine wiederherzustellen? In Deutschland ist aktuell sehr häufig der Ruf des „Nie wieder!“ zu hören.

Gemeint ist damit, dass wir Deutsche aus unseren Fehlern, aus den Verbrechen der Nazi-Zeit gelernt haben sollten. Eine wesentliche Einsicht ist leider unter den Nachfolgern von Helmut Kohl zunehmend nicht mehr beachtet worden. Die Osterweiterung der EU war auch Ausdruck davon, dass nicht mehr so wie früher, Berlin und Moskau sich anmaßen, das Schicksal der zwischen ihnen liegenden Staaten und Völker bestimmen zu können. Stattdessen gab es in mehreren deutschen Regierungen ein allzu großes Verständnis für russische Forderungen und Befindlichkeiten. Und viel zu wenig Verständnis für die realen Bedrohungen durch Russland. Besonders schmerzlich war: Die Warnungen der Osteuropäer vor russischem Hegemoniestreben und Revisionismus wurden zugunsten preiswerter Energieimporte aus Russland ignoriert.

Selbst als schon auf der Krim und im Donbas Russland seinen Raubzug auf Kosten der Ukraine in Gang gesetzt hatte, wurde die Gaspipeline Nord-Stream II weiter gebaut. Diese fatale Fehleinschätzung wurde im Februar 2022 brutal offengelegt. Die durch Bundeskanzler Olaf Scholz ausgerufene Zeitenwende muss deshalb ein dauerhafter Richtungswechsel um 180 Grad sein.

Die Stationierung einer deutschen Brigade in Litauen ist nur ein Element einer tatkräftigen Solidarität mit unseren Verbündeten. Die wirtschaftliche und sicherheitspolitische Integration der Ukraine in die Strukturen der EU und der NATO würde die Sicherheit aller Nachbarstaaten erhöhen. Zu den Gefährdungen der EU gehört auch, dass in vielen Mitgliedsländern der EU der Eindruck einer „intellektuellen Vormundschaft“ durch politische Eliten entstanden ist. Das schafft Distanz, mindert Loyalität, Legitimation und die Identifikation mit der transnationalen Ordnungsidee. Da helfen nur konkrete positive Erfahrungen wie die Reisefreiheit im Schengen-Raum und die einheitlichen Preise für das Roaming, wenn man in Europa unterwegs ist.

Vor der Europawahl hat es die Verabschiedung neuer Regelungen für den Umgang mit den Migrations- und Flüchtlingsbewegungen unserer Zeit durch Kommission, Rat und Parlament gegeben. Ob das die gewünschten Veränderungen bei der Begrenzung der unberechtigt in die EU Einreisenden haben wird, ist noch nicht ausgemacht. Genauso wenig, ob sich alle Mitglieder auch an die Vorgaben halten werden.

Hinsichtlich der Akzeptanz der EU durch die Bürger bekommen wir alle eine klare Ansage durch das Ergebnis der Wahl zum Europäischen Parlament Anfang Juni. In Demokratien haben Wahlentscheidungen konkrete Konsequenzen. Ein letztes Mal möchte ich deshalb Helmut Kohl zitieren: „Zur Politik der europäischen Einigung gibt es keine verantwortbare Alternative. Wer einem Rückfall in Nationalismus, den Gefahren machtpolitischer Rivalitäten und unheilvollen Konflikten vorbeugen will, wer Frieden, Freiheit, Sicherheit und Wohlstand für alle Bürger unseres Kontinents auf Dauer sichern will, der wird für das geeinte Europa eintreten.“

Für diese Einsicht sollten wir alle werben. Ein wichtiger Beitrag dazu wurde bereits durch all diejenigen geleistet, die an der Organisation des heutigen Ereignisses mitgewirkt haben. Ich möchte ein herzliches Dankeschön allen diplomatischen Vertretungen aussprechen, die Ihre Stände aufgebaut und für die Gäste zu Gesprächen und Diskussionen zur Verfügung standen. Ein besonderer Dank gebührt unserer Partnerorganisation, der Europäischen Akademie Berlin und ihrem Direktor, Herrn Dr. Johann.

Und jetzt freue ich mich, an den Regierenden Bürgermeister übergeben zu dürfen. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.