Rede der Präsidentin des Abgeordnetenhauses von Berlin Cornelia Seibeld zur Ausstellungseröffnung "Verdrängung, Enteignung, Neuanfang: Familienunternehmen in Ostdeutschland von 1945 bis heute"
04.10.2023 17:00, Abgeordnetenhaus, Wandelhalle
Ich freue mich, Sie zur heutigen Ausstellungseröffnung im Abgeordnetenhaus von Berlin begrüßen zu dürfen. Seien Sie alle herzlich willkommen – schön, dass Sie da sind.
Als Landesparlament von Berlin ist es uns ein besonderes Anliegen, die regelmäßige Auseinandersetzung mit unserer Geschichte zu suchen und zu pflegen.
Berlin ist wie keine andere Stadt, als Schauplatz vieler historischer Ereignisse und heutige Bundeshauptstadt, eng mit der gesamtdeutschen Vergangenheit verbunden. In der Aufarbeitung der DDR-Geschichte sind Ereignisse wie der 17. Juni von 1953 oder der 9. November von 1989 aus gutem Grund allgegenwärtig. Für die Aufarbeitung dieser komplexen Geschichte der SED-Diktatur ist es aber ebenso wichtig und notwendig, dass wir weitere Themen und menschliche Schicksale näher betrachten.
Die heutige Ausstellung tut genau das, indem sie den Fokus auf die Entwicklung der Familienunternehmen in Ostdeutschland von 1945 bis heute legt. Am Beispiel der DDR lässt sich unter anderem lernen, welche Bedeutung die Zerstörung von über Jahrzehnte gewachsenen privaten Familienunternehmen für eine Volkswirtschaft haben kann. Schon durch die direkten Eingriffe der Sowjetischen Militäradministration in Ihrer Besatzungszone zwischen 1945 und 1949, durch Enteignungen und die Verpflichtung zu Reparationsleistungen sowie einem speziellen, neu geschaffenen Wirtschaftsstrafrecht kam es zu einer ersten Abwanderungswelle und der Verlegung von Firmensitzen in die Westzonen. 1952 beschloss die SED den „beschleunigten Aufbau des Sozialismus in der DDR“.
In der Folge setzte die Kollektivierung der Landwirtschaft ein und Unternehmer wie Selbstständige erlitten massive Nachteile im Alltagsleben. Ihnen wurden die Lebensmittelkarten entzogen, was ihnen den Bezug eines Großteils der weiterhin rationierten Lebensmittel erschwerte und sie wurden von den Leistungen der Kranken- und Sozialversicherung ausgeschlossen. Alt-Bundespräsident Joachim Gauck schilderte die Lage in seiner Rede zum diesjährigen Gedenken an den Aufstand des 17. Juni 1953 wie folgt:
„Die Partei bringt weite Teile der Gesellschaft damit gegen sich auf. Bevormundung, Enteignungen und politische Inhaftierungen prägen den Alltag der damaligen Zeit.“
Ein bezeichnendes Beispiel für das generalstabsmäßige Vorgehen war im Januar 1953 die „Aktion Rose“, die zur Verstaatlichung von 440 Hotels und Pensionen sowie weiteren Gaststätten und Wohnhäusern an der Ostseeküste führte. Im Zuge dieser Maßnahme wurden auch jüdische Mitbürger ein zweites Mal Opfer einer Diktatur auf deutschem Boden. So musste Adalbert Béla Kaba-Klein seine in Binz auf Rügen gelegenen Hotels „Kaiserhof“ und „Kurhaus“ zum Zwecke der „Arisierung“ abgeben.
Er kehrte nach der gelungenen Flucht vor der Deportation 1947 nach Rügen zurück, nur um im Februar 1953 inhaftiert, zu zehn Jahren Haft und zum abermaligen Verlust seines Eigentums verurteilt zu werden.
Zusammen mit der Lohnkürzung für Industriearbeiter in Form der verordneten Normerhöhung kulminierte die Wirtschaftskrise Mitte Juni 1953 in dem bekannten DDR-weiten Volksaufstand. Nach dessen Niederschlagung wurde die SED-Führung zeitweilig vorsichtiger beim Tempo der Vergesellschaftung privater Betriebe und schob der anschwellenden Fluchtbewegung nach Westen 1961 durch den Bau der Mauer einen Riegel vor.
Die „Übergangsform“ der Beteiligung des SED-Staates an Privatbetrieben sah bereits vor, dass die Entscheidungen über Produkte, Investitionen und Preise durch die Institutionen der staatlichen Planwirtschaft getroffen wurden. 1972 wurde durch Beschluss des Politbüros die Umwandlung von 11800 ehemals privaten Betrieben in sogenannte Volkseigene Betriebe (VEB) verfügt.
Unternehmertum war fortan nur noch in Nischen des Handwerks, des Einzelhandels und der Gastronomie gestattet. Der dadurch entstandene anhaltende wirtschaftliche Schaden war enorm. Dieser Zustand hielt bis zur friedlichen Revolution der Ostdeutschen im Herbst 1989 an. Im März 1990 veranlasste die DDR erste Schritte zur Reprivatisierung. Erst nach der Wiederherstellung der Deutschen Einheit im Oktober 1990 konnte mit dem Neuaufbau des Mittelstands in Ostdeutschland begonnen werden.
Damit ehemalige Familienunternehmerinnen und Familienunternehmer bzw. deren Nachkommen wieder an ihre alten Wirkungsstätten zurückkehren und an ihre unternehmerische Tätigkeit anknüpfen konnten, mussten einige rechtliche Voraussetzungen geschaffen und bürokratische Verfahren bewältigt werden.
Der Prozess der Reprivatisierung gestaltete sich mitunter sehr aufwändig und setzte die Klärung der Besitzverhältnisse sowie häufig die Verpflichtung zu Investitionen voraus. Manche Hoffnungen und Erwartungen an die vollständige Wiedergutmachung erlittenen Unrechts wurden enttäuscht.
Die Sanierung der Unternehmen drängte, da die Staatsbetriebe in vielen Fällen mit Schulden belastet waren und die Produktivität deutlich unter der in Westdeutschland lag. Erschwerend kam der Wegfall bisheriger Märkte hinzu, der mit dem Zusammenbruch der „Organisation des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe“ einherging. Die Einführung der „Deutschen Mark“ als harter Währung zwang zu wettbewerbsfähigem Kostenmanagement und der Erschließung neuer zahlungsfähiger Kunden. Der Wille vieler Unternehmerinnen und Unternehmer in Ostdeutschland, nach der Wende wieder an die Traditionen ihrer Familienunternehmen anknüpfen zu könnten, überstand zahlreiche Belastungen.
Einigen Unternehmen ist es gelungen, ihre Marken erfolgreich zu bewahren oder wiederzubeleben. Der Unternehmer und Gesellschafter des Herstellers von Backmischungen Kathi, Herr Rainer Thiele, hat schon vor der Wiedervereinigung in die Markenrechte seines Unternehmens investiert. Das zeugt von einer enormen Motivation, das unternehmerische Schicksal wieder in die eigenen Hände zu nehmen. Auch einige andere Unternehmerinnen und Unternehmer begründeten so eine neue Generation von Familienunternehmen, die heute tausenden von Menschen Arbeit geben und wieder tragende wirtschaftliche Kräfte in den neuen Bundesländern sind.
Ungefähr 92 Prozent der Unternehmen in Ostdeutschland sind heute Familienunternehmen. Der Anteil liegt damit sogar etwas höher als im Westen. Auch international sind ostdeutsche Familienunternehmen erfolgreich und partizipieren an den weltweiten Märkten. Insgesamt ist die Bilanz mehr als 30 Jahre nach der deutschen Einheit eindeutig positiv. In Ostdeutschland gibt es wieder eine lebendige Landschaft an Familienunternehmen, die unter den richtigen Bedingungen auch in Zukunft weiter gedeihen kann.
Meine Damen und Herren, damit haben Familienunternehmer in den Jahrzenten nach dem Mauerfall eine beeindruckende Geschichte des Neuaufbaus geschrieben. Die heutige Ausstellung „Verdrängung, Enteignung, Neuanfang: Familienunternehmen in Ostdeutschland von 1945 bis heute.“ porträtiert anhand von Exponaten und Medienstationen genau diese vorhin beschriebenen Geschichten und Schicksale. Viele Firmen konnten ihre Hoffnung entgegen der Drangsalierung nur aufgrund ihres Durchhaltevermögens bewahren.
Neben Briefwechseln und Presseartikeln über die Unternehmenstätigkeit von 1945 bis heute, berichten Familienunternehmerinnen und Familienunternehmer, die nach der Verstaatlichung zum Teil in den volkseigenen Betrieben verblieben, in Interviews von den Bedingungen, ihren Reaktionen und Strategien. Themen wie die Pflege von Marken und Warenzeichen, Lizenzverkäufe ins Ausland, aber auch Beispiele für Firmenneugründungen und die Herausforderungen beim Wieder- oder Neuaufbau werden in der Ausstellung dargestellt.
Ich möchte der Stiftung Familienunternehmen, namentlich Ihnen Herrn Dr. Stoll, herzlich für diese gelungene Ausstellung danken. Als wissenschaftlich Verantwortlichen für die Ausstellungsinhalte, möchte ich dem Berliner Wirtschaftshistoriker Dr. Rainer Karlsch, der später noch Teil der Gesprächsrunde sein wird, meinen Dank ausdrücken. Auch danke ich herzlich Frau Dr. Bettina Wurster, die als Mitglied der Geschäftsleitung der Stiftung Familienunternehmen ebenfalls teilnehmen wird.Ein besonderer Dank gilt Herrn Niels Lars Chrestensen, der als Gesellschafter der N.L. Chrestensen Erfurter Samen- und Pflanzenzucht GmbH aus der Sicht eines Familienunternehmers berichten wird.
Bevor ich nun Herrn Dr. Stoll an das Redepult bitte, möchte ich Ihnen noch unsere wahrscheinlich jüngsten Teilnehmerinnen der Veranstaltung vorstellen: Kaja und Klėja Kašubaitė, die heute Abend für die musikalische Begleitung sorgen. Herzlichen Dank dafür.
Uns allen wünsche ich einen schönen Abend. Vielen Dank!