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Blick in den Plenarsaal und hauptsächlich die Flaggen für Deutschland, Berlin und Europa

Rede des Präsidenten des Abgeordnetenhauses von Berlin zum Festakt des Verfassungsgerichtshofes Berlin

17.10.2014 14:00, Kammergericht (Historischer Plenarsaal)

Das Jahr 2014 ist ein besonderes Jahr für Berlin. Wir blicken am 9. November zurück auf ein stadtgeschichtliches Ereignis, das im wahrsten Sinne des Wortes die Welt veränderte. Der Fall der Berliner Mauer brachte nicht nur die deutsche Wiedervereinigung. Auch der Bau eines neuen, größeren  Europäischen Hauses schien plötzlich möglich, in dem der Geist der Freiheit zuhause sein sollte. Wir stocken noch auf diesem Weg. Aber ich bin guter Dinge: Auch die Ukraine-Krise wird den Lauf der Freiheit nicht aufhalten. Was wir derzeit mit Blick auf Russland erleben, ist der Versuch, etwas aufzuhalten, was nicht aufzuhalten ist. Auch dass wir heute beisammen sind, um die neu gewählten Berliner Verfassungsrichterinnen und Verfassungsrichter feierlich in ihr Amt einzuführen und die ausscheidenden zu verabschieden, ist letztlich eine Folge des Mauerfalls und unserer Wiedervereinigung. Denn der Berliner Verfassungsgerichtshof als Instanz wurde nach der städtischen Vereinigung durch die geänderte Berliner Verfassung ins Leben gerufen. Wir können auch nach 25 Jahren immer noch darüber glücklich sein, dass die einstigen DDR-Bürgerinnen und Bürger aufbegehrten, um künftig in Freiheit und Einheit zu leben. Man kann Millionen Menschen nicht ewig einsperren. Mithilfe einer klugen und friedlichen Revolution wurde es möglich, die Demokratie in ganz Deutschland und in ganz Berlin zu verankern. Und nur so ist es bis heute möglich, für alle in Deutschland dieselben Rechte zu garantieren – auch Grundrechte, so wie sie in unseren Verfassungen niedergeschrieben sind. Das ist etwas ganz Hervorragendes. Und darauf können wir alle stolz sein. Überall in Deutschland herrscht nun wirklich das Gesetz. Viele kennen den Satz von Bärbel Bohley, der ganz vielen Menschen, nicht nur aus der DDR aus dem Herzen sprach: „Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat.“ Dahinter steht natürlich die Vorstellung, dass Gesetzesherrschaft und Gerechtigkeit gleichgesetzt werden können. Doch das ist ein Trugschluss. Keinem Rechtsstaat wird es jemals gelingen, vollständige Gerechtigkeit zu gewähren. Für Niemanden. Und doch wird gerade ein Rechtsstaat bemüht sein, genau diese Lücke zwischen Gerechtigkeit und der Auslegung von Gesetzen so gering wie möglich zu halten. In Diktaturen und Unrechtsstaaten wird dieses Gleichgewicht überhaupt nicht angestrebt. Die Rechtsprechung degeneriert dort zum Instrument einer politischen Kaste ohne wirkliche Machtlegitimation. Zurück bleiben gebeugte Menschen, die in die Fänge von Diktatoren gerieten. Nicht wenige bezahlten dafür mit ihrem Leben. Unsere eigene Geschichte im 20. Jahrhundert ist voll von diesen Grausamkeiten, eben weil es keine Rechtssicherheit gab. Wozu Richter fähig sein können, wenn die Grundsätze eines Rechtsstaates ausgehebelt sind, machen auf grausame Weise Bilder deutlich, die in diesem Saal gedreht wurden. Hier wütete Roland Freisler als Vorsitzender Richter des Volksgerichtshofes. Wir sehen noch alle die Aufnahmen aus der Wochenschau vor unserem geistigen Auge, die deutlich machen, wie zynisch, jähzornig und menschenverachtend Freisler hier tausende Todesurteile fällte unter extremer Rechtsbeugung. Wir werden gleich Professor Dr. Dr. Ingo Müller zu diesem Thema hören. Was bleibt von all den Zweifeln, die nicht nur Bärbel Bohley befielen mit Blick auf die Forderung nach mehr Gerechtigkeit? Erstens dürfen wir grundsätzlich in unserem Land einem Gesetz vertrauen, sofern es vom demokratischen Gesetzgeber erlassen wurde. Zweitens haben wir in der Bundesrepublik als weitere Instanzen das Bundesverfassungsgericht und die Landesverfassungsgerichte, die Gesetze am Maßstab des Grundgesetzes und am Maßstab der Landesverfassungen messen. Und drittens verbürgen – wenn auch in Grenzen – das Grundgesetz und die Verfassungen der Länder die Freiheit, dass sich Menschen ihrem Gewissen gemäß verhalten dürfen. Das ist uns in all den Jahrzehnten seit 1945 im westlichen Deutschland und seit 1990 im gesamten Deutschland gut gelungen. Demokratie und Rechtsstaat bilden eine Einheit zum Wohle aller Menschen. Und die Gerechtigkeit wird keineswegs außer Acht gelassen, nur nicht immer so umgesetzt, wie es dem Einzelnen gefällt. Aber das hält ein Rechtsstaat aus, ja muss ein Rechtsstaat aushalten. Ich möchte nun abschließend allen Verfassungsrichterinnen und -richtern im Namen des Berliner Abgeordnetenhauses danken, die aus dem aktiven Dienst ausscheiden. Sie haben zu unserer Rechtssicherheit – bezogen auf Verfassungsfragen –beigetragen. Ich wünsche Ihnen auf Ihren jeweiligen weiteren Wegen alles Gute. Diese Arbeit geht nun in die Hände neu gewählter Richterinnen und Richter über. Auch Ihnen danke ich für Ihr künftiges juristisches Engagement an unserer Verfassung und wünsche Ihnen allzeit Mut zur Gerechtigkeit im Sinne einer übergeordneten Rechtssicherheit. Ich bedanke mich nun für Ihre Aufmerksamkeit und darf das Wort an Professor Dr. Müller weiterreichen. Er wird über das Thema „70 Jahre Volksgerichtshof und der 20. Juli 1944“ sprechen – ein äußerst trauriges Kapitel deutscher Rechtsgeschichte. Vielen Dank.